Die Blockflöte bei ARTE
Kommentare aus Fachkreisen zu einem umstrittenen Film
Für den deutsch-französischen Kultursender ARTE hat der Hessische Rundfunk eine knapp einstündige Dokumentation zur Blockflöte unter der Regie von Natascha Pflaumbaum produziert. Bis zum 19. Oktober 2018 war sie in der ARTE-Mediathek online zu sehen. Seither finden sich nichtoffizielle Kopien davon in YouTube. Gemäß dem Titel »Die Blockflöte – Ein Comeback. Der neue Sound von Maurice Steger« ist der Beitrag stark auf den Schweizer Blockflötisten, seine Eleven und zuarbeitende Instrumentenmacher ausgerichtet und sorgte umgehend für heftige Kontroversen. Wir betrachten die wichtigsten Kernaussagen des Films und lassen dazu eine Reihe von Fachleuten zu Wort kommen: Hans-Martin Linde (HML), Walter van Hauwe (WvH), Dan Laurin (DL), Hans-Maria Kneihs (HMK), David Lasocki (DaLa), Manfred Harras (MHa), Winfried Michel (WM), Daniël Brüggen (DB), Hans-Dieter Michatz (HDM), Ulrike Volkhardt (UV), Manfredo Zimmermann (MZi), Marco Scorticati (MS), Gregorio Carraro (GC), Martin Heidecker (MH), Markus Bartholomé (MB), Guido Maria Klemisch (GMK), Heinz Ammann (HA), Ilse Strauß (ISt), Barbara Hintermeier (HB), Almut Werner (AW), Bettina Bäß (BB), Bärbel Hanslik (BaHk), Gritli Kohler-Nyvall (GK), Markus Zahnhausen (MZ), Thomas Baack (TB) und Nik Tarasov (NT).
Lediglich alle paar Jahrzehnte entsteht ein von einer öffentlichen Fernsehanstalt produzierter umfangreicher Beitrag zur Blockflöte. Damit tritt das Instrument vor ein weitaus größeres Publikum als gemeinhin üblich. Dies mag umso mehr für den neuen, aktuell ausgestrahlten, knapp einstündigen ARTE-Fernsehfilm gelten, der im Windschatten des Internets weitere Verbreitung findet, jederzeit abrufbar ist und über die sozialen Medien zu mancherlei Stellungnahmen einlädt.
Wie zu erwarten, sind die Meinungen geteilt zu dem, was da zu sehen ist und ebenso zum schriftlichen Vorspann, der dem Beitrag in der ARTE-Mediathek vorangestellt ist. In der Materie unerfahrene ZuschauerInnen und Fachleute sind polarisiert: Zu vielfältig ist und bleibt das Bild über die Blockflöte in ihrer wechselhaften und langen Geschichte.
So mag man kaum verwundert sein über die Flut von Reaktionen auf den Film, die alleine jetzt schon den Windkanal erreicht haben. Sie würden mehr als eine Heftausgabe füllen! Wir haben uns entschieden, dass eine Fachzeitschrift die Aufgabe hat, die wichtigsten Stellungnahmen international tätiger Fachleute zusammengefasst zu veröffentlichen und orientieren uns dabei an den Filmkapiteln.
Herausgekommen ist eine kritische und informative Auseinandersetzung mit dem Film sowie darüber hinaus die Betrachtung damit verbundener Sachverhalte. Katalytisch werden Dinge an die Oberfläche gespült, die andernfalls kaum je zur Sprache kommen.
Hierfür haben wir den Heftumfang so stark wie kaum je zuvor erweitert.
Wir wünschen eine interessante Exkursion durch die Gedanken unserer Expertinnen und Experten.
Die piesackende Blockflöte
HDM: Es heißt, »ganze Generationen fühlten sich gepiesackt von der Blockflöte«. Dass dieses Argument immer wieder neu aufgewärmt wird! Ich hatte gedacht, das ist schon seit meiner Generation nicht mehr relevant!
MB: Warum ist dieses Vorurteil von dem Kinderfolterinstrument Blockflöte nicht aus der Welt zu bringen? Aber natürlich funktionieren so Vorurteile: Durch ständige Wiederholung kommen Leute, die noch nie darüber nachgedacht haben, erst auf den entsprechenden Gedanken und verbinden dann Blockflöte eben mit Klangfolter (siehe den BR-Podcast der Sendung Radiowissen »Die Blockflöte – Virtuosin und Nervensäge«. Wie kann man da als »Blockflötengemeinde« endlich gegensteuern?
NT: Solche populistischen Reizworte an den Anfang eines Films zu setzen, ist eine unausweichliche Konzession an die Vielzahl unbedarfter Zuseher. Mir scheint, so werden niedere Instinkte geweckt und bestätigt – die Volksseele braucht das: Brot und Spiele sowie ein passendes Opfer. Die Kinderblockflöte. In einem neuen Klamauk-Video toppt der selbsternannte »Betroffenheitslyriker« Olaf Schubert diese Thematik, indem er sich, wohl stellvertretend für alle, gleichsam am Instrument rächt: Einige Sopranblockflöten aus Holz werden einem Holzschredder zugeführt und verwandeln sich im Nu in Pelletts. Die Menge johlt. Dieser im MDR-Sendeformat »Spasszone« unter dem Titel »Blockflöte – musikalischer SuperGAU. Olaf macht Mut« auf YouTube eingestellte Clip trägt den offiziellen Kommentar: »Die Blockflöte ist ein Instrument. Ein Instrument, das seit Jahrhunderten die Hörhärchen von Eltern und Geschwistern malträtiert. Der musikalische Super-Gau.« Es ist hoffnungslos, diesen Teil unseres Images loswerden zu wollen …
MZ: Gleich zu Beginn bedient der Beitrag die gängigen, jahrzehntelang tradierten (und – nota bene – gepflegten!) Klischees: Die verschmähte Blockflöte, das Kinderinstrument etc. Wie lange noch!? Mir scheint, dass einigen dieses Image geradezu zupass kommt: Die breite Masse des Publikums zieht nicht das (durchaus existente) künstlerische Blockflötenspiel auf hohem Niveau als Referenzpunkt heran, sondern eher das JeKi-Klassenmusizieren.
HB: Dass, wie im Film behauptet, das »Schulmusikinstrument Blockflöte einfach zu erlernen ist«, stimmt so einfach nicht. Da ich auch viel im Schulwesen tätig und mit einem Lehrer verheiratet bin, muss ich deutlich widersprechen. Sicher gibt es noch Schulen, in denen Blockflöte im Klassenverband unterrichtet wird. Längst haben jedoch auch andere Instrumente ihren Platz gefunden: Sehr beliebt sind z. B. Boomwhacker, mit denen sich schnell gemeinsam musizieren lässt. Nach wie vor werden auch viele Orff-Instrumente benützt – alles Instrumente, auf denen die Kinder nicht üben müssen, was inzwischen im alltäglichen Schulleben tatsächlich schwierig ist. Ebenfalls einen wichtigen Teil im Musik-
unterricht an Schulen haben Streicher- und Bläserklassen … Diese Behauptung ist schlichtweg falsch.
Dann die Aussage, dass »sehr viele junge Menschen das Instrument erlernen, aber fast niemand dabei bleibt«. Fast mein Lieblingsthema: Welche Lehrwerke noch immer an Schulen verwendet werden, kann man sich kaum vorstellen (Rohr-Lehn ist noch das harmloseste …), die Lehrer habe oft keine Ausbildung (jeder »kann« Blockflöte unterrichten), deutsche Griffweise ist fast selbstverständlich – da ist es doch nicht seltsam, dass fast alle wieder aufhören! Stellen wir uns doch mal so einen unqualifizierten Geigenunterricht vor! Nicht jeder Grundschullehrer ist gleichzeitig Instrumentallehrer. Werden Blockflötenlehrer eingesetzt, sieht die Situation natürlich ganz anders aus. Und, es gibt inzwischen so viele gute moderne Blockflötenschulen, dass keiner mehr gepiesackt wird.
MHa: Maurice Steger und die Redakteurin – egal, wer sich da äußert – bejammern immer wieder das grausame Schicksal der vielen Kinder, die bei uns früher mit der Blockflöte gequält wurden. Man kann es nicht mehr hören! Auf meinen Laienkursen treffe ich auf Teilnehmer im Alter von 40 bis 80! Da sage ich: »Prima! Die haben alle Freude an der Blockflöte, an der Musik und einfach am gemeinsamen Tun! Schön!« Ich erlebe das ja nicht allein, sondern Dutzende von Kolleginnen und Kollegen sind in dieser erfüllenden Arbeit tätig. Da kommt eine riesige Zahl von Blockflötenliebhabern jedes Jahr zusammen! Und darunter ist eine große, sehr große Anzahl von begeisterten SpielerInnen unseres Instrumentes, die zu der so bezeichneten »Generation der Gequälten« gehören. Weil sie etwa so gequält worden sind, so eine Aversion gegen die Blockflöte entwickelt haben, darum kommen sie zuhauf zu Kursen? Man soll doch endlich Schluss machen mit dieser Mär! Mir kommen da all die sogenannten »höheren Töchter am Klavier« in den Sinn ... Viele Kinder müssen ein Instrument spielen, werden von den Eltern dazu gezwungen. Und das ist nicht immer Blockflöte. Sie steigen auch bei den anderen Instrumenten aus! Richtig ist, dass es bei uns Zeiten des »Massentourismus auf der Blockflöte« gab! Da hat gerade meine Generation hart dafür gekämpft, dass die Großgruppen an den Musikschulen aufgegeben wurden. Es war ein harter Kampf! Und nun? Einerseits wird in dem Film das Schicksal der »Gequälten« bejammert, andererseits wird Maurice Steger in Taiwan geradezu euphorisch angesichts dieses »Massentourismus«! Taiwan, die Blockflötennation! Was will er eigentlich? Was er in Europa verdammt, ist in Taiwan gut?
In einer taiwanische Grundschule
MHa: Man sieht am Flügel eine Lehrerin (ist sie Blockflötenlehrerin oder Schulmusikerin? Das bleibt ungeklärt), die eine Gruppe von Schülern begleitet, alle bewaffnet mit Sopranblockflöten. Die Kinder spielen unisono eine Liedmelodie. Die Kinder strahlen niedlich in die Kamera. Wer würde ihnen das verdenken, ist doch das Fernsehen da. Man nimmt sie wichtig, das macht doch stolz und erfreut.
HDM: Von den Kindern gespielt wird hier übrigens die Schnulze »Edelweiss« aus dem Musical »The Sound of Music« (1959) von Richard Rodgers und Texten von Oscar Hammerstein, welches Leben und Aufstieg der berühmten Trapp-Familie zum Thema hat.
DB: Kommt mir fast vor, als hätte jemanden vielleicht den Film »Ricercata« (DVD, MusicFrameFilms, 2011) gesehen und dadurch Ideen gekriegt. Schön!
WvH: In Taiwan sei Blockflötespielen »Volkssport«. Absoluter Quatsch. Auch in Taiwan wird die Blockflöte einfach als das praktischste Instrument für den Schulunterricht gesehen, gleich wie anderswo. Das Land entwickele »sich gerade zur Blockflötennation« ... reiner Quatsch. Ich war ein paarmal dort (letztes Mal vor vier Jahren) und gehe wieder 2019 hin. Nie etwas von einer Blockflötennation bemerkt. Hier sei »die Blockflöte die Nr. 1 unter den Instrumenten«. Reiner Quatsch!
DaLa: Die Rolle der Blockflöte in der Musikausbildung in Taiwan gibt zwar eine nette Geschichte ab, jedoch ist dies keineswegs einzigartig oder besonders aktuell. Seit den 1930er-Jahren gelangte die Blockflöte in beträchtlichem Umfang in England und Deutschland in der Kinder- und Jugendmusikausbildung zum Einsatz. Das vielleicht beeindruckendste Beispiel, das mir in den Sinn kommt, ist der jahrzehntelange obligatorische Einsatz billiger Kunststoffblockflöten zur Einführung in die Welt der Musikinstrumente für die Mehrzahl der Grundschüler in den Vereinigten Staaten. Somit müssten also etliche Millionen heute lebender Amerikaner als Kind für ein Jahr Blockflöte gelernt haben. Aufgrund dessen wäre es ein Leichtes, die These aufzustellen, dass die Blockflöte das beliebteste Instrument der Welt sei, wenngleich auch nur noch relativ wenige Amerikaner das Instrument als Erwachsene spielen. Sympathischer wären natürlich, sagen wir einmal, örtliche deutsche Musikschulen, in denen Kinder und Erwachsene gleichermaßen das Instrument freiwillig erlernen, einfach, weil es ihnen Spaß macht.
MZ: Mich würde allerdings interessieren, ob sich der Enthusiasmus für das Blockflötenspiel auch noch NACH Abschluss der Schule fortsetzt.
NT: Taiwan ist tatsächlich praktisch das einzige Land, dessen allgemeine Schulen die Blockflöte – zu allermeist in preiswerter, Kunststoffausführung – Kindern und Jugendlichen per Gruppenzwang verordnet. Man mag über den Nutzen dieser Maßnahme streiten oder nicht, aber dieses Phänomen stellt heute auf alle Fälle eine Ausnahme dar. Die jungen Leute lernen ihnen zugeteilte Ensemblepartien auswendig wie anderen Schulstoff und vergessen das hernach natürlich wieder. So legen die meisten Leute in Taiwan das Instrument nach Ablauf der Schulzeit ab; ein Musikschulwesen nach unseren Maßstäben ist erst im Aufbau.
MHa: Einen Aspekt sollte man unbedingt bei dieser Gruppenpräsentation bedenken: Bei uns herrscht ja doch eine gewisse Tendenz, aus Ersparnisgründen wieder vermehrt auf den Gruppenunterricht hinzuarbeiten. Die Politik, die Kommunen (meist Trägerschaft der Musikschulen) etc. finden das natürlich wunderbar. Und da leistet Maurice Steger der Sache einen Bärendienst! Man stelle sich vor, dieser Film wird von entsprechenden Leuten mit Einfluss gesehen! Dann werden diese sagen, dass immerhin ein »Weltstar«, der es ja wissen muss, so etwas auch für gut befindet. Man kann die Kolleginnen und Kollegen, die aktiv im Dienst sind (und ihn vielleicht bewundern, weil er ja so viel für unser Instrument tut), nur zum Nachdenken ermuntern ...
Taiwanische Blockflötenorchester
NT: In der Filmmoderation heißt es: »In Taiwan ist die Blockflöte das erste Instrument, das Kinder in der Schule lernen. Nur viel professioneller als in Deutschland. Jedes taiwanische Kind wird im Laufe seiner Schulkarriere Sopran- und Altblockflöte lernen.« Ja sind wir in Deutschland inzwischen so schlecht geworden beim Blockflötenunterricht? Kann doch nicht sein. Zumal Schulunterricht mit der Blockflöte nun wirklich in Deutschland »erfunden« wurde, hätte man filmisch mal die Kamera auch in eine deutsche Schule reinhängen können, wo im Blockflötenorchester musiziert wird. Mich stört außerdem noch folgendes, und zwar der Ausdruck »Schulkarriere«. Heute soll bei allem und jedem »Karriere« gemacht werden: Kindergartenkarriere, Ausbildungskarriere, Liebeskarriere, Musikschulkarriere, Familienkarriere, Berufskarriere, Rentenkarriere, am Ende vielleicht noch die Friedhofskarriere. Leider zieht sich dieser Karriereanspruch durch den ganzen Film, gleichsam als Gütesiegel und verhindert damit die Wertschätzung jeglicher Normalität. Ich wünschte, es gäbe wieder weniger Karrieren auf dieser Welt …
MZi: Wie kann man »professionell lernen«? Gemeint ist vermutlich »professionell lehren«. Aber da habe ich meine Zweifel, ob das, wie behauptet, besser als in Deutschland ist. Das pädagogische Rüstzeug basiert bei den Lehrern größtenteils auf Kenntnissen, die in Europa erworben wurden.
WvH: Es gibt bei uns eine Handvoll Studenten aus Japan und Korea. Ich schätze, dass 10 bis 15 asiatische Studenten mit einigem Erfolg irgendwo in Europa seriös Blockflöte studieren.
MZ: Interessant ist Taiwan gegenwärtig vor allem für die zahlreichen europäischen Spieler und Lehrer, für die sich ein (lukrativer) neuer Markt erschlossen hat. Yung-Tai Liu ist gewiss ein begeisternder Pädagoge und leistet mit seinem Blockflötenorchester Erstaunliches.
WvH: Das haben wir alles doch schon vor Jahrzehnten getan?
HMK: Sollen wir uns ernsthaft darüber unterhalten, wer die besseren Blockflötenorchester hat, Deutschland oder Taiwan?
MHa: Der Blockflötenchor, den wir hören, spielt (im Rahmen des Möglichen) absolut gut. Die landeseigene Musik, auf die so viel Wert gelegt wird, kann man auch akzeptieren. Sie unterscheidet sich aber kaum von dem, was man von Lance Eccles, Eileen Silcocks und Marg Hall u. a. kennt.
Und dann der Kommentar der unkritischen Redakteurin: »So etwas gibt es in Europa nicht!« Viele solcher Formationen gibt es in Europa. Ich kann mich nur auf meine Erfahrungen in Deutschland, England und in der Schweiz berufen. In England gibt es die traditionsreiche Society of Recorder Players. Dort werden laufend das ganze Jahr über in den diversen Branches landesweit Zusammenspieltreffen in Großgruppen organisiert, die oft anzahlmäßig einem Blockflötenorchester gleichzusetzen sind. In Deutschland leitet Dietrich Schnabel diverse Orchester von erheblicher Größe. Diese Ensembles spielen auf hohem Niveau (auch besetzt u. a. mit vielen begeisterten Mitwirkenden der Generation der »Gequälten«). Sein Württembergisches Blockflötenorchester besteht schon seit über zehn Jahren. In der Schweiz leitet Raphael Benjamin Meyer erfolgreich gleich mehrere solcher Formationen ...
BaHk: Aller hier aufgeführten sachlichen Kritik schließe ich mich gerne an. Als begeisterte Lehrerin in einem engagierten Team in der Musikschule, Leiterin eines Blockflötenorchesters, »Erfinderin« der Erlanger Blockflötentage und der Erlanger Blockflötenmedaille, als Musikschulleiterin auch als Vertreterin von hochwertigem Großgruppenunterricht mit der Blockflöte pflegen wir quasi alles, was über Taiwan als etwas besonderes geschildert wurde. Und ich weiß von vielen KollegInnen, die dies ebenfalls seit vielen Jahren tun. Was bitte ist daran neu?
Tatort Wigmore Hall
NT: Nach kurzer Introduktion zum gesellschaftlichen Status der Blockflöte wird es endlich prominent. Hauptdarsteller Maurice Steger betritt in London feierlich die Bühne der renommierten Wigmore Hall zu einem von der BBC übertragenen Mittagskonzert.
MHa: Und weiter wird man im Film belehrt: »London – die Wigmore Hall ist eine große Adresse. Dass Solisten einmal mit der Blockflöte solche berühmten, großen Konzertsäle füllen könnten – bis vor zwei Jahrzehnten undenkbar!« Diese Aussage ist schon ein kolossales Statement! Wo bleibt die Recherche?!
NT: Die Verantwortlichen hätten gut daran getan, sich zumindest zur Überprüfung der Fakten ein fachkundiges Lektorat zu leisten. Denn dieses Märchen von der Blockflöte in der Wigmore Hall ist schlichtweg falsch. Richtig ist, dass bereits der Blockflötist Carl Dolmetsch zwischen 1939 und 1989 sage und schreibe 45 Konzerte mit der Blockflöte dort gegeben hat! Für praktisch jeden dieser vielbeachteten Auftritte beauftragte er zudem oft bedeutende zeitgenössische Komponisten, ein neues Stück zu schreiben, das er und seine musikalischen Partner dort zur Uraufführung brachten. Viele dieser Werke sind unterdessen ins klassische Blockflötenrepertoire eingegangen. Empfohlen sei folgende, für dieses Thema aufschlussreiche Lektüre von Andrew Mayes: Carl Dolmetsch and the Recorder Repertoire of the 20th Century (Ashgate 2003).
DaLa: Ich selbst hörte in der Wigmore Hall in den 1960er-Jahren solche Virtuosen wie Frans Brüggen, Hans-Martin Linde und David Munrow.
WvH: Seit mehr als einem halben Jahrhundert spielen besagte berühmte Solisten und Ensembles in allen großen Hallen der Welt. Ich selbst habe, denke ich, zehnmal in der Wigmore Hall gespielt, in der Zeit, als Steger noch in der Grundschule war. Netter Konzertsaal, sicher; aber das ausverkaufte Opernhaus in Sydney fand ich viel spannender. Womit ich nur sagen möchte: Wo man spielt ist nicht so wichtig; eher WIE und WAS man spielt.
DB: Ein wirklich schöner Saal für Kammermusik! Eine schöne Erinnerung dort 1981 mit dem Amsterdam Loeki Stardust Quartet eingeladen worden zu sein, von Christopher Hogwood für »a New Years Eve Concert«. Später hat man das Podium angepasst, und damit hat dieser Saal meiner Meinung nach akustisch noch zugelegt. Immer angenehm dort zu spielen.
Die Verantwortlichen des Films
MHa: Als Redakteurin des Films amtet Natascha Pflaumbaum. Durch Google bekam ich über sie Informationen bezüglich anderer ihrer Arbeiten: U. a. hat sie über die DOCUMENTA 14 in Kassel gearbeitet; eine weitere Arbeit liegt vor über das Städel Museum in Frankfurt am Main, »Glaskunst aus Taunusstein« war ein Thema (sehr schön). Außerdem hat sie andere Projekte betreut, die sich mit musikalischen Themen auseinandersetzen.
Die nächste, wichtige Frage, die sich mir stellte: Wer trägt eigentlich die Verantwortung für diesen Film? Ist es Maurice Steger oder die Redakteurin? Letztere gibt in dieser Produktion – wie wir auch weiter noch sehen werden – diverse, falsche Informationen! Man kann eigentlich davon ausgehen, dass sie in diesem speziellen Fall von der Materie nicht viel Ahnung hat. Die Vermutung liegt nahe, dass sie ihre wesentlichen Informationen von Steger bekommen haben muss! Man erzählt uns Zuschauern eine Geschichte, die so eigentlich nie stattgefunden hat. Hätte sie ordentlich recherchiert, wäre es nicht zu dieser absoluten Fehlleistung gekommen!
Maurice Steger, geboren 1971 in Winterthur, spielte seine erste CD »An Italian Ground« (Claves) 1994 ein. Setzt man in diesem Jahr den Beginn seiner internationalen Karriere an, dann hat er also bis heute insgesamt für das »Comeback der Blockflöte« (so wie er das sieht) gut 24 Jahre Arbeit als »Einzelkämpfer« geleistet. Frau Pflaumbaum sieht das wohl ebenso und hat vor lauter Begeisterung über Maurice Steger nicht bemerkt, dass zur Entstehungszeit ihres Filmes der Zug mit dem »Comeback der Blockflöte« im Gepäck längst seinen Zielbahnhof erreicht hatte.
Die Sache mit dem Comeback
MHa: Frau Pflaumbaum merkt zu Maurice Steger an: »Er hat die Blockflöte konzertsaalfähig gemacht« … Dann hört man von ihr: »Überall auf der Welt erlebt die Blockflöte gerade eine Renaissance. Und das ist ihm zu verdanken: Maurice Steger – Blockflötist, Weltstar!«
NT: Da steckt viel Glamour drin! Dem sollten wir mal auf den Grund gehen, die Dinge einzeln betrachten und vielleicht doch zunächst noch einmal entpersonalisieren: Auf welche Renaissance spielt der Film an? Wer die Rolle der Blockflöte in der Musikpädagogik in den vergangenen Jahrzehnten betrachtet, wird einen stetigen Rückgang weltweit nicht verleugnen können. Demnach ist auch die Anzahl von Blockflötenstudenten rückläufig – analog zum Stellenangebot an Musikschulen.
Rein statistisch betrachtet kann von einem Comeback der Blockflöte kaum die Rede sein. Betrachten wir stellvertretend einige aktuelle Erhebungen der letzten Jahre aus deutschen Landen: Gemäß einer Umfrage durch die SOMM (Society of Music Merchants e. V.) und media control GmbH waren 2016 akustische/elektroakustische Gitarren die beliebtesten Instrumente der Deutschen. Davon spielen 15,9 % diese Saiteninstrumente, immerhin 14,4 % Blockflöte! Es folgen mit 12,0 % Klavier, mit 9,3 % Keyboards, mit 5,4 % Querflöte und 5,0 % elektrische Gitarren.
Interessanterweise wird ein Jahr später die Blockflöte dann bei einer weiteren Befragung im Auftrag derselben Auftraggeber zum Thema Nutzung von Musikinstrumenten in Stadt und Land bei den Befragten in ländlichen Gebieten gar nicht erst erwähnt: »Befragt nach der Nutzung des Instrumentes, spielen Musiker in Kleinstädten am meisten die Trompete (58,6 %), gefolgt von Akkordeons (50,6 %), Geigen (44,4 %), Gitarren (41,4 %) und am wenigsten das Klavier (38,4 %).«
Von noch deutlicherer Sprache ist die aktuellste Übersicht des Verbands deutscher Musikschulen VdM von 2017 über die Entwicklung der Schülerzahlen an Musikschulen: Im Verlauf der 1980er-Jahre überholt das Klavier die Blockflöte und behauptet sich seitdem mit steigender Tendenz an der Spitze. 1995 muss die Blockflöte Rang 2 zu Gunsten der Gitarre räumen und fällt 2010 sogar noch hinter die Violine zurück.
MZi: Bin ganz dieser Meinung. Ich würde generell und speziell in Deutschland sogar von einem Rückgang (um nicht zu sagen einem Niedergang) der Blockflöte sprechen. Die hier präsentierten Zahlen sprechen Bände… Zumal an (deutschen) Hochschulen ein drastischer Rückgang an Blockflötenstudierenden zu verzeichnen ist. Die Gründe dafür sind uns sicher bekannt.
DaLa: Der Titel des Films impliziert, dass die Blockflöte gegenwärtig ein »Comeback« erlebt, und irgendwo ist sogar davon die Rede, dass »die Erneuerung der Blockflöte heute ihre Zukunft sicherstelle«. In Wirklichkeit ist die Blockflöte als Instrument für Berufs- und Amateurspieler vom 14. Jahrhundert bis zum heutigen Tag dokumentiert und ihre Rolle als pädagogisches Instrument lässt sich mindestens bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Selbst noch im späten 18. und im 19. Jahrhundert, als die Blockflöte unter Berufsmusikern an Bedeutung verlor, blieb sie ein wichtiges Instrument für Amateure und zu Ausbildungszwecken. Unter anderen Bezeichnungen erstand sie immer wieder von neuem, beeindruckte die Neue Welt, entwickelte ein neues Repertoire, erfuhr beachtliche bautechnische Entwicklungen und brachte sogar noch beliebtere Varianten hervor, mit denen Virtuosen lange vor Carl Dolmetsch und dem modernen Jetset die Welt bereisten. Somit ist selbst die bestens dokumentierte »Wiederentdeckung« der Blockflöte im späten 19. Jahrhundert in Deutschland sowie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in England nur ein kleiner Baustein ihrer anhaltenden Popularität.
Der Hinweis des Films auf ein jüngst stattgefundenes »Comeback« stellt also nichts Neues dar bis auf eine Ausnahme, die ich später kurz erläutern möchte.
HML: Für mich fangen die Fragen bereits beim Titel an. Gibt es wirklich ein heutiges »Comeback« der Blockflöte? Wo war das Instrument denn zuvor? Hatten Gustav Scheck, Ferdinand Conrad, Frans Brüggen, Michala Petri und ich selbst es etwa ausgelöscht? Historisch falsch und geradezu lächerlich! Da fehlt doch wirklich ein halbes Jahrhundert auf dem Weg in eine längst sehr erfolgreiche Zukunft der Blockflöte. Hochstehende Spielweise, stilistisches Verständnis und enorme Breite der Kompositionen sind doch unübersehbar und unüberhörbar.
TB: Etikettenschwindel bei ARTE. Was soll ein solches Marketingprodukt, das unter dem Deckmantel des Comebacks der Blockflöte daherkommt, dem nicht-fachkundigen Zuschauer vermitteln? Als seriös hätte ich es empfunden, wenn die weltweit einflussreichsten Schulen des professionellen Blockflötenspiels (Holland, Skandinavien, Deutschland, Italien) von führenden Repräsentanten vorgestellt worden wären, anstatt Werbung für einen Interpreten zu betreiben.
MH: Was da an Plattitüden und nachweislichen Falschaussagen durch diesen 50-minütigen Film geistert, lässt mich vergessen, dass ich bisher den HR und ARTE für seriöse Fernsehkanäle gehalten habe: Alte Musik ist gleich Barockmusik, Steger ist der erste und einzige, der die Blockflöte weltweit in die Konzertsäle gebracht hat (Hans-Martin Linde, Frans Brüggen, Walter van Hauwe und viele andere haben offensichtlich nie gelebt, da sie gar nicht erst erwähnt werden!) usw.
WvH: Immerhin studierte Steger selbst bei einem der großen Blockflötisten, Kees Boeke, der schon in der ganzen Welt bekannt war, als er noch in den Windeln lag.
MS: Als Maurice Steger seine Musikerkarriere begann, gab es bereits viele Solisten, die sich der Blockflöte widmeten, und die in den Konzertsälen regelmäßig konzertierten: Beispielsweise Frans Brüggen, dem wir es in besonderem Maße zu verdanken haben, dass die Blockflöte seit einigen Jahrzehnten nicht mehr ausschließlich als Schulmusikinstrument betrachtet wird. Aber auch eine lange Reihe von Musikern seien hier genannt: Neben den bereits erwähnten sind das Gudrun Heyens, Conrad Steinmann, Jeanette van Wingerden, Pedro Memelsdorff, Dan Laurin, Michael Schneider, Peter Holtslag, Giovanni Antonini, Marcos Volonterio, Lorenzo Cavasanti, Hugo Reyne, Jean-Pierre Nicolas, Robert Ehrlich, Amsterdam Loeki Stardust Quartet u. v. a.
Heutzutage gibt es ausgezeichnete jüngere Blockflötisten und Blockflöten-Consorts aus ganz Europa, Südamerika, den USA und dem fernen Osten ... Auch wenn sie sich nicht regelmäßig in Fernsehsendungen zeigen, sie führen stets neue, interessante und fruchtbare Ideen weiter.
Wenn man das Wort »Comeback« benutzt, muss man doch annehmen, dass die Blockflöte in Vergessenheit geraten ist. Wir Blockflötisten wissen aber, dass in den letzten Jahren so etwas nie geschehen ist.
WM: Ein Film – erfreulich, ja ansteckend in ungetrübter Spiel- und Lebenslaune; bedenklich in seiner Beschränkung auf Gegenwart und Person; beängstigend im Verschweigen der Vergangenheit, der wirklichen Erforscher »Alter Musik«, der längst erfolgten Leistungen auf dem Gebiet relevanter zeitgenössischer Blockflötenwerke. Ein postmoderner Meteorstein, geschichtslos.
UV: SEHR SCHADE und SEHR PEINLICH, dass der so renommierte und geschätzte Sender ARTE in einer umfangreichen Sendung zum sogenannten »Comeback der Blockflöte« das Thema so unglaublich verfehlt und stattdessen ein »Portrait« eines einzelnen Blockflötisten mit deutlicher Promotion seiner selbst und seiner persönlichen Entourage produziert. Journalistisches Handwerk setzt ja umfangreiche und sachlich korrekte Recherche voraus. Diese hätte im angesprochenen Zusammenhang zutage fördern können und müssen,
dass die »Wiederentdeckung« (nicht das »Comeback«) der Blockflöte bereits in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts stattfand,
dass dieses uns faszinierende Instrument ab dieser Zeit parallel eine Renaissance als historisch anspruchsvolles wie auch als die Massen begeisterndes und pädagogisch wertvolles Blasinstrument erlebte,
dass engagierte und renommierte Spieler die Blockflöte im Konzertleben bereits vor dem 2. Weltkrieg, in diesem Krieg (!)
und danach auf höchstem Niveau in Konzerten spielten und eine Vielzahl von neuen Spielern ausbildeten,
dass spätestens seit den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, ausgehend von Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz, die Blockflötisten auf der ganzen Welt konzertierten und so eine weltweite Begeisterung für das Instrument weckten,
dass die exzellenten Spieler an Hochschulen und Konservatorien eine fast unüberschaubare Anzahl von hervorragenden Blockflötisten ausgebildet haben,
dass auf dieser Basis und durch diese Absolventen seit Jahrzehnten eine riesige Begeisterung für das Instrument geweckt und in engagierter Breitenarbeit auf qualitativ höchstem Niveau vermittelt wird,
etc. pp.
DaLa: Der Fokus auf dem Schweizer Blockflötisten Maurice Steger legt nahe, dass er maßgeblich mit dem vermeintlichen »Comeback« der Blockflöte zu tun habe und dass er etwas ganz Besonderes auf dem Instrument leiste. In Wirklichkeit ist er heute nur einer von vielen hundert Virtuosen, die Alte Musik aufführen und aufnehmen, und andere Virtuosen tun weit mehr dafür, das beachtliche zeitgenössische Repertoire des Instruments zu verbreiten.
MH: Heute sah ich auf Facebook, wie dieser Film im Internet bereits von zahlreichen jungen BlockflötenspielerInnen zuhauf geliked wurde. Versteht einer oder eine von ihnen, dass dieser Film ein reiner Werbefilm für eine einzige Person ist und im Grunde nichts mit dem vorgegebenen Thema »Die Blockflöte – ein Comeback« zu tun hatz
Bildung & Recherche
NT: Mit der Interpretationsgeschichte des eigenen Instruments sollte man sich auskennen.
BB: Eine Trennung von Sachinformation und Personenkult wäre in jedem Fall wünschenswert gewesen. Die Anzahl sachlicher Fehler ist peinlich. Auch wenn Frau Pflaumbaum nicht in der Szene zu Hause ist, hätte sie viel besser recherchieren können und müssen.
HMK: Ich sehe in dem Film die Arbeit einer Fernsehproduzentin, die unter Missachtung der elementarsten journalistischen Grundsätze (Distanz zum Thema, Distanz zur porträtierten Person, Recherche-Recherche-Recherche, Check und Gegencheck) und unbeleckt von jeder Sachkenntnis ihren Vorurteilen und Vorlieben freien Lauf lässt.
Sekundärliteratur zur »Wiederbelebung«
MHa: Hätte die Redaktion im Zusammenhang mit dieser Thematik wirklich gründlich recherchiert, hätte sie erfahren, dass die »Wiederbelebung« oder meinetwegen das »Comeback« der Blockflöte nicht das alleinige Verdienst von Maurice Steger ist, sondern dieser Prozess seit seinen ersten Anfängen (bis heute) eine Zeitspanne von über einhundert Jahren umfasst.
Publikationen älteren und neueren Datums zur Thematik gibt es zuhauf!
Eine kleine Auswahl sei hier aufgelistet – zunächst die englischsprachigen Bücher:
Christopher Welch »Lectures on the Recorder«, Reprint des Originals aus dem Jahre 1911 (!), mit einführendem Kommentar von Edgar Hunt (Oxford University Press: London, New York, Toronto, 1961),
Edgar Hunt »The Recorder and its Music«, erweiterte Ausgabe (London: Eulenburg, 1977),
Kenneth Wollitz »The Recorder Book«, (London: Victor Gollancz, 1982),
Richard Griscom/David Lasocki »The Recorder – A Guide to Writings about the Instrument for Players and Researchers« (New York & London: Garland Publishing, 1994).
Deutschsprachige Literatur zur Blockflöte:
Dietz Degen »Zur Geschichte der Blockflöte in den germanischen Ländern« (Kassel: Bärenreiter, 1937 bzw. Kassel: Bärenreiter Reprint, 1972),
Hildemarie Peter »Die Blockflöte und ihre Spielweise in Vergangenheit und Gegenwart« (Berlin: Lienau-Verlag, 1953),
Hans-Martin Linde »Handbuch des Blockflötenspiels« (Mainz: Schott, 1962, bzw. zweite erweiterte Ausgabe, Mainz etc.: Schott, 1984),
Gustav Scheck »Die Flöte und ihre Musik« (Mainz: Schott, 1975),
Peter Thalheimer »Die Blockflöte in Deutschland 1920–1945« (Tutzing: Verlag Hans Schneider, 2010).
Es ist unmöglich, hier alle Publikationen zum Thema Blockflöte aufzulisten, die in Buchform oder als Artikel in Fachzeitschriften etc. weltweit publiziert worden sind.
Pionier & Star Nr. 1
NT: Was also zeichnet die wichtigsten Galionsfiguren unseres Instruments aus? Müssen wir uns wirklich inzwischen mit einer derartigen Unwissenheit auseinandersetzen, dass wir von vorne anfangen müssen aufzuzählen?
MHa: Mit der Wiederbelebung der Blockflöte im 20. Jahrhundert sind Namen verbunden, die zwangsläufig bei der informationsresistenten Redakteurin nicht für erwähnenswert gehalten werden.
Der Cembalist Fritz Neumeyer gründete im Jahre 1933 die »Saarbrücker Vereinigung für Alte Musik«. Mitglied dieses Ensembles war Ferdinand Conrad (1912–1992). Er spielte in dieser Formation Barocktraversflöte und vor allem Blockflöte. Dieses Ensemble konzertierte in ganz Deutschland und machte Rundfunkaufnahmen. Es war eines der ersten Ensembles überhaupt, die für den Funk in Deutschland Aufnahmen gemacht haben. Man kann sagen, dass es Rundfunkgeschichte geschrieben hat. Ferdinand Conrad war nach dem zweiten Weltkrieg einer der führenden Blockflötisten Deutschlands, mit internationaler Konzert- und Lehrtätigkeit. Zahlreiche Schallplatten bei der Archiv-Produktion der Deutschen Grammophongesellschaft, Musicaphon, Cantate u. a. dokumentieren sein Schaffen. Er war Professor für Blockflöte an der Musikhochschule in Hannover.
Gustav Scheck (1901–1984) war in Deutschland d e r Blockflötist der Nachkriegsära schlechthin. Er war u. a. der Lehrer von Ferdinand Conrad. Vor dem Krieg war er Professor für Flöte an der Musikhochschule in Berlin und nach dem Krieg in Freiburg an der dortigen Hochschule für Musik als Professor für Flöte und Blockflöte tätig. Zusammen mit dem Gambisten/Cellisten August Wenzinger gründete er 1930 den »Kammermusikkreis Scheck-Wenzinger«. Mit diesem Kammerorchester, das damals schon auf historischen Instrumenten musizierte, machte Gustav Scheck für das Label Electrola ebenfalls noch vor dem Krieg Schallplattenaufnahmen. Es wurde eine Suite von Philipp Heinrich Erlebach für Blockflöte, Streicher und B. c. aufgenommen, sowie ein Konzert von Pergolesi für Querflöte (auf Schellackplatte). Konzerte führten den Kammermusikkreis nach Italien und in die Schweiz. Nach dem Krieg arbeitete Gustav Scheck intensiv zusammen mit Fritz Neumeyer, Cembalo und August Wenzinger, Viola da Gamba. Neben einer umfangreichen Konzerttätigkeit in Deutschland und dem europäischen Ausland machte Scheck eine große Anzahl von Schallplatten bei der im Jahre 1948 von Dr. Fred Hamel gegründeten Archiv Produktion der Deutschen Grammophon-Gesellschaft. Mit seinem Schaffen hat er zu seiner Zeit Maßstäbe gesetzt und wurde zu einem der ganz Großen auf dem Sektor Blockflöte gezählt.
Arnold Dolmetsch (1858–1940) war DER Pionier im Bereich der Alten Musik. Er war es, der 1919 die erste »moderne« Blockflöte baute. Dabei orientierte er sich schon damals an einer historischen Altblockflöte von Bressan aus seinem Besitz. (August Wenzinger vererbte mir aus seiner Sammlung eine Altblockflöte und eine Voice-Flute, gebaut ca. 1927 von Arnold Dolmetsch in Haslemere, die auch heute noch von einer beachtlichen Qualität sind!) Das erste Festival für Alte Musik unter Dolmetschs Leitung fand 1925 in Haslemere/England statt. Im Folgejahr präsentierte er am 30.08. in einem Konzert des Festivals zum ersten Mal ein komplettes Blockflöten-Consort, bestehend aus einer Sopran-, zwei Alt-, einer Tenor- und einer Bassblockflöte (in C/F-Stimmung). Auf diesen Instrumenten erklangen laut Programm »Popular Tunes« aus dem 16. und 17. Jahrhundert. (Zu diesem Teil der Dolmetsch-Geschichte siehe: Mabel Dolmetsch »Personal Recollections of Arnold Dolmetsch (London: Routledge & Kegan Paul Ltd., 1957); Margaret Campbell »Dolmetsch – the man and his work« (London: Hamish Hamilton, 1975); Manfred Harras »Arnold Dolmetsch« in IAM Journal I (Kassel, 1993). Die kompletten Programmhefte des Haslemere-Festivals – mit Kommentaren von Arnold Dolmetsch – der Jahre 1926 bis 1939 befinden sich in meinem privaten Archiv.
Seinen Sohn Carl (1911–1997) kann man als ersten Blockflötenvirtuosen des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Er war als Blockflötist in England, den USA und in anderen Ländern tätig, gab Kurse und Meisterkurs und war einer der Ersten, der Schallplatten mit Blockflötenmusik eingespielt hat. Seine Tochter Jeanne (ebenfalls Blockflötistin) hat zusammen mit Andrew Mayes zum 100. Geburtstag ihres Vaters ein Buch herausgegeben: »Carl Dolmetsch – A Centenary Celebration« (Mytholmroyd: Peacock Press, 2011). Man liest dort: »2011 is the centenary of the birth of Carl Dolmetsch, surely one of the most influential figures of the recorder’s extraordinary revival in the 20th century«.
Zum Prädikat »Weltstar«
NT: Warum braucht es zur Darstellung von Blockflötenkultur ausgerechnet diese krampfhafte Assoziation mit einem angeblichen »Weltstar« samt dazugehörigem Starkult? Es sind vielmehr die vielen Pädagogen, Liebhaber, Enthusiasten und zahlreichen guten Spielerinnen und Spieler des Instruments, die die Geschicke wirklich lenken. Ein anderer ARTE-Film »Biking Boom – Das Fahrrad als Lebensstil« macht es besser und beschreibt Begeisterung und Initiativen rund um die Drahtesel, ohne einen Radprofi wie Erik Zabel bemühen zu müssen.
AW: Man hätte zu diesem Thema mit mehr Sachverstand sicherlich einen informativen, ansprechenden Film gestalten können.
MHa: Als ersten »Weltstar« der Blockflöte (sowie auch auf der Traversflöte) kann man Hans-Martin Linde (*1930) zählen. Im Vorwort zur Festschrift, die anlässlich seines 85. Geburtstages erschien, schreibt die Herausgeberin Dagmar Wilgo zum Geleit. »Der Auslöser für diese Festschrift ist der 85. Geburtstag von Hans-Martin Linde, dessen Vielseitigkeit und umfassende Bildung ich sehr schätze. Er ist ein Universalgelehrter auf musikalischem Gebiet als Spieler von Block-, Travers- und Querflöte, als Komponist sowie als Dirigent, als Autor von Schul- und Studienwerken plus seiner Tätigkeit als Herausgeber von Werken anderer Komponisten«. Besser könnte man das Lebenswerk von Hans-Martin Linde nicht beschreiben und darstellen. Die Zahl seiner Schallplatten und CDs ist unüberschaubar (Archiv-Produktion, EMI, Harmonia Mundi, Christophorus etc.). Als Solist und Dirigent war er weltweit tätig, hochangesehen und geschätzt – ebenso als Dozent von Meisterkursen in Europa und Übersee. Jahrzehntelang war er einer der wichtigsten Lehrer an der Schola Cantorum Basiliensis. Ganze Generationen von Blockflötisten, die heute über die ganze Welt verstreut tätig sind, hat er ausgebildet. Ihm ist die Blockflötenwelt zu größtem Dank verpflichtet.
GC: Einige Bemerkungen zum Wörtchen »Weltstar«. Michael Jackson, Prince oder Lou Reed waren (und sind noch) Weltstars. Sie waren die Besten ihrer Generation, ohne die Notwendigkeit, dies in den Lebenslauf schreiben zu müssen. Gewiss ist es nicht an mir zu definieren, was die Blockflötenwelt heute braucht, und besonders nicht hier; aber ich glaube, dass es nicht Stars, Helden oder nagelneue Marvel-Superheros sind. Wir leben in dem gleichen und gemeinsamen Supermarkt – trotzdem sollten wir uns daran halten, Musik nie zum »Product Placement« zu machen.
MS: Auch meinerseits etwas zum Wort »Weltstar«. Schon die Kopplung »Blockflötist, Weltstar« scheint mir in sich widersprüchlich zu sein. Weitere Weltstars sind Paul McCartney, Bono oder Cristiano Ro-
naldo. Und ich schätze viel mehr einen Fußballfan, der nach CR7 verrückt ist, als den Typen, der nach einem voller-Fehler-Allegro von Vivaldi noch ein »Woha!!« schreien wollte (so zu sehen beim 2015 Echo-Klassik-Awards-Konzert). Wenn Cristiano Ronaldo Blockflöte gespielt hätte, so wie er Fußball spielt, hätte er Vivaldi saugut spielen können.
Das Thema unserer Diskussion ist das ARTE-Video; verbringt man aber ein paar Minuten auf YouTube, um die beiden gefilmten Aufführungen des Vivaldi-Konzertes RV 443 von Maurice Steger zu betrachten, wird sofort klar, wie weit wir hier vom Perfektionsbegriff entfernt sind, den etwa irgendein Geigenweltstar erfüllen muss, und von dem, der für einen heutigen Star der Blockflöte zu genügen scheint.
WvH: Ja, wenn wir über technische Kontrolle sprechen: Dass Steger es wagt, mit so vielen falschen Noten vors Publikum zu treten und dabei auch nicht einmal alle Noten spielen kann (weil alles zu schnell ist), ist wirklich einmalig. Er kann die Stücke einfach nicht spielen! Wirklich unglaublich, dass er damit durchkommt. Wirklich unglaublich auch, dass das Publikum das akzeptiert. Absolut keine Chance, dass er bei uns in Amsterdam eine Prüfung bestehen würde! Und ich denke auch anderswo nicht.
MS: Absolut richtig. Wenn irgendein(e) StudentIn in einer Musikhochschule bei der Abschlussprüfung spielen würde, wie Maurice Steger in vielen YouTube-Videos spielt, würde er/sie niemals die Prüfung bestehen. Aber trotzdem, was sonst das Publikum auf YouTube kommentiert, ist: »Für Vivaldi war die Perfektion nicht wichtig«, und dass das Ganze »deliziös außer Kontrolle« sei. Dass da sehr oft keine einzige Note sauber klingt, und dass Finger und Zunge in schnellen Passagen regelmäßig nicht zusammen sind, so etwas scheint niemand zu bemerken.
MZ: Um etwa auf dem Klavier, der Geige oder einem beliebigen Orchesterinstrument eine »Weltkarriere« zu machen, bedarf es weit mehr als eines charmanten Auftretens und eines rührigen Managements. Bei allem Respekt – die Behauptung, »Steger mache Dinge auf der Blockflöte, die sonst keiner könne«, ist sicher werbewirksam, aber eines seriösen Künstlers nicht würdig. Das Publikum indes nimmt es für bare Münze.
WvH: Total einverstanden!
HDM: Genau das ist das Gefährliche. Nach den Konzerten hier in Australien gab’s nur noch Maurice Steger im Radio, und selbst gestandenes Publikum verlor sich in Massenhysterie. Nur einige meinten: »Naja, also schnell war’s, aber so ganz sauber eben doch nicht ...«
MHa: Ich erlaube mir an dieser Stelle an einen wirklichen Weltstar zu erinnern: Frans Brüggen (1934–2014). Am 18.08.2014 konnte man im Kulturteil des Tagespiegels anlässlich seines Todes den Nachruf von Christiane Peitz lesen: »POP-IKONE DER BLOCKFLÖTE – Frans Brüggen war einer der Pioniere der Alten Musik und hat die Blockflöte wieder konzerttauglich gemacht«. Weiterhin schreibt sie: »Das Stichwort Blockflöte verbinden die meisten Menschen mit unangenehmen Assoziationen. Flötende, piepsende, prustende Kinder im ersten Musikunterricht, Laienensembles, ein Amateurinstrument halt. Frans Brüggen hat das geändert: Der niederländische Pionier der Alten Musik wurde in frühen Jahren ein Popstar, ja ein Guru der Blockflöte, hat als erster mit dem verpönten Instrument ein Hochschuldiplom erlangt. Vor allem hat er die Blockflöte wieder konzerttauglich gemacht, sie von ihrem Ruf als minderwertiges Blasinstrument befreit«. Kommt uns das alles nicht irgendwie bekannt vor? Jetzt kann man spätestens an dieser Stelle konstatieren: »Manche Leute sind ihrer Zeit voraus – Steger & Pflaumbaum sind ihr definitiv hinterher»! Sie liegen absolut falsch!
Christiane Peitz kann man zum Teil auch in einzelnen Aussagen widersprechen. Ich denke, dass das aus meinen vorherigen Ausführungen hervorgeht und ersichtlich ist.
Etwas ganz Wesentliches muss nun unbedingt ergänzend festgestellt werden: Frans Brüggen war maßgeblich bei der Hinwendung zum quasi »historischen Blockflötenbau« beteiligt. Er selbst besaß eine Sammlung von exquisiten originalen Blockflöten. Einige dieser Instrumente kann man, zusammen mit originalen Blockflöten aus anderen Sammlungen, auf Schallplatte hören: »Frans Brüggen – 17 Blockflöten« (erschienen bei »Das Alte Werk«/Telefunken, 1972/1975). Dieser Schallplatten-
edition (3 LPs) liegt ein ausgezeichnetes Begleitheft bei, verfasst vom Interpreten und dem Blockflötenbauer Hans Coolsma aus Utrecht. Coolsma hat in diesen Jahren auf Anregung von Frans Brüggen, eine originale Altblockflöte von Bressan kopiert und in größeren Serien hergestellt. Er hat damit in gewissem Sinn auch Pionierarbeit geleistet. Ebenso wie bei Hans-Martin Linde, ist Brüggens Diskographie nahezu unüberschaubar. Er hat praktisch das ganze historische Solorepertoire für Blockflöte eingespielt, was zu der Zeit damals greifbar war. Nach dem Ende seiner Karriere als Blockflötist wurde er erneut weltbekannt als Dirigent.
Die Sache mit dem Frühbarock
NT: Zunächst sieht und hört man Steger mit Ausschnitten frühbarocker Musik von Giovanni Battista Fontana (um 1571–1630) und Andrea Falconieri (um 1585–1656). Ich glaube, unter Fachleuten könnte eine Bemerkung zu den hierfür zweckentfremdeten Ganassi-Blockflöten angebracht sein.
GMK: Die Flöten, die Steger in dem genannten Konzert spielt, haben wirklich nicht mal etwas mit »Ganassi« zu tun, auch nicht mit Flöten, die um 1535 in Gebrauch waren! Diese Geräte mit Ganassi in Verbindung zu bringen, ist schon mehr als ärgerlich. Es handelt sich bei Stegers Flöten um Pseudo-Renaissance-Flöten, erfunden von Frederick Morgan, die es meines Wissens in zwei Versionen gibt:
a. Zylindrische Bohrung mit einer starken Erweiterung der Bohrung zur Fußplatte (Ende) hin.
b. Für den Klang noch verheerender als Version a: das Kopfstück hat eine deutlich engere Bohrung hat (ca. 1 mm bei einer Flöte in Alt/Diskantgröße), ansonsten wie Version a.
Es existieren mehrere Typen von Bohrungen bei Renaissanceflöten und frühbarocken Flöten, aber nicht in dieser vereinfachten Form.
Außerdem erlaube ich mir darauf hinzuweisen, dass Fontana ca. 80 Jahre später als Ganassi gelebt hat: Andere Zeit, anderer Stil, andere Flöten!
NT: So langsam bin ich es leid, frühbarocke Violinmusik fortlaufend auf sogenannten Ganassiflöten dargeboten zu bekommen! Abgesehen davon, dass manche Fachleute diesen Instrumententyp ohnehin für eine Fiktion halten, stimme ich bei, dass es unterdessen viele schön gemachte, gut funktionierende und klangschöne Instrumente dieser Art auf dem Markt gibt. Aber sie sind halt gemäß Etikett nur 1535 beschrieben – ich kenne keinen Beleg dafür im 17. Jahrhundert. Wer demnach Frühbarock »verganassisiert«, verweigert sich dem Forschungsstand historischer Aufführungspraxis, wie er spätestens seit dem entsprechenden internationalen Symposium in Utrecht vor bald einem Vierteljahrhundert und der dazugehörigen Dokumentation State of the Art sein sollte (siehe: David Lasocki (Hrsg.), »The Recorder in the 17th Century«. Utrecht, STIMU Foundation for Historical Performance Practice 1993). Unterdessen kennt man ja einige originale Blockflöten aus dem Frühbarock und es gibt davon auch interessante Nachbauten.
GMK: Es gibt eine ganze Reihe frühbarocker Blockflöten, die prima über zwei Oktaven + gehen. Aus dem 17. Jahrhundert existieren eine ganze Reihe Flöten, die als Vorlagen für Kopien geeignet wären. Hauptmerkmal ist die Griffweise. Sie sollten mit Mersenne-Griffweise oder einer vergleichbaren über zwei Oktaven spielbar sein. Der entscheidende Unterschied zur Ganassi-Griffweise: Die 14. und 15. Stufe, »H« und »C« auf einer Sopranflöte, sind sogenannte Quintgriffe, abgeleitet von »E«. Man überbläst also nicht in die Oktave. Dabei ist »C« grifftechnisch gesehen ein »His«. Quintgriffe sind leicht daran zu erkennen, dass der Ton zwar höher wird, aber Tonlöcher zusätzlich geschlossen werden. Diese Griffweise entspricht im Prinzip der heute gebräuchlichen barocken Griffweise.
Bei der Ganassi-Griffweise hingegen werden alle Töne in die Oktave überblasen, es gibt also keine Quintgriffe. Eine gewisse Sonderstellung nimmt der Griff für die Doppeloktave ein, die aus dem ersten Teilton (Grundton) abgeleitet wird (alle Tonlöcher geschlossen nur Daumenloch (TL 0) und TL 2 etwas geöffnet). Abweichungen von der Oktavregel gibt’s dann in der 3. Oktave.
Beispiele frühbarocker Instrumente
GMK: Einige Beispiele zu originalen Vorlagen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Sopranflöte von I. C. Denner, Bachhaus Eisenach, Baujahr spätestens 1682. Es handelt sich um eine konzeptionell konisch durchgestaltete Bohrung, ein ausgesprochen avancierter Entwurf. Man könnte daraus schließen, dass Denner von den »französischen musikalischen Instrumenta« (gemeint sind spätbarocke Holzblasinstrumente, vorrangig Blockflöte und Oboe) lediglich die Dreiteilung und äußere Gestaltung übernommen hat.
Sopranflöten, Schloss Rosenborg (Kopenhagen), 1673 erstmals in der königlichen Kunstkammer inventarisiert, möglicherweise also etwas älter. Vor allem eine der beiden Flöten besitzt hervorragende Qualitäten. Die Bohrung ist sehr viel konventioneller als Denners Sopranflöte. Sie besteht aus zylindrischen Sektionen, mit abnehmendem Durchmesser. Dadurch entsteht eine enger werdende Bohrung.
Sopran-, Alt- und Tenorflöte in der Wiener Sammlung, signiert mit einer Art Blume, Werkstatt unbekannt, spätes 16. oder frühes 17. Jahrhundert. Trotz des etwas archaischen Bohrungskonzepts sind die Flöten mit Mersenne-Griffweise und nicht mit Ganassi- oder Jambe-de-Fer-Griffweise spielbar: Der Bohrungsverlauf ist zylindrisch und verjüngt sich bei TL 6 sehr stark, um sich zur Fußplatte hin nur wenig zu erweitern.
Es existieren mehrere frühbarocke Blockflöten von Richard Haka (heute in Potsdam, Edinburgh), eine Altflöte (Elfenbein) in G, Jurriaensz van Heerde zugeschrieben (Shrine of Music, USA), eine anonyme Altflöte in G (Privatbesitz), der letzteren ähnlich. Die Potsdamer Haka-Flöte ist im Katalog der HBI der Nürnberger Sammlung beschrieben (Sopranino, Elfenbein).
Nicht zu vergessen Flöten von Kynseker (um 1670 entstanden). Vor allem die Bohrung der Sopranflöten und der Bassettflöte zeichnet sich durch einen deutlichen, aber flachen konischen Verlauf aus. Die klangliche Schönheit ist besonders hervorzuheben. Die von zwei großen Herstellern angebotenen Kynseker-Kopien haben bis auf die äußere Form wenig mit dem Original zu tun! Dies betrifft insbesondere die Bohrung, die ich nachgemessen habe.
NT: Die aktuellsten Erkenntnisse hierzu finden sich übrigens im Beitrag »Rendezvous mit Kynseker« in der Windkanal-Ausgabe 2018-1.
GMK: Alle frühbarocken Flöten stehen ca. einen halben Ton über a1=440 Hz. Diese Vorlagen werden zum überwiegenden Teil auch kopiert.
MS: Man benutzt im Film aber die Super-Flöte, die »wie eine wahre Trompete« klingt, und dann kann man nicht die erste melodische Linie der Sonata Seconda von Fontana (C-D-E) durchspielen, ohne nach der zweiten Note zu atmen, egal ob die harmonische Beziehung zwischen Dominante und Tonika abgebrochen wird …
Mensch Meyer!
NT: Wie dem auch sei: Schon der Vorspann zum Film kündigt an, Steger habe »das Blockflötenspiel technisch revolutioniert«.
WvH: Die Realität sieht so aus, dass er fast ausschließlich auf zwei Arten von Blockflöten spielt: Alt und Sopran. Dabei gibt es mittlerweile rund 30 verschiedene Blockflöten auf historischer Basis, und es haben mehrere Blockflötenbauer erfolgreich moderne Blockflöten entwickelt.
NT: Steger verwendet sie zumindest nicht –weder im Film, noch bei seinen sonstigen Konzerten. Trotzdem heißt es gemäß der Filmsprecherin weiter – und das ist dann ein Widerspruch in sich –, er gehöre »zu den größten Förderern und Entwicklern der Blockflöte«. Dabei verwendet und promotet er exklusiv nur die auf wenige Modelle beschränkten Instrumente eines einzigen Herstellers. Er habe alles revolutioniert, »indem er einen besonderen Klang mit riesigem Volumen entwickelte«. Und dies vermittels des sogenannten »Meyer-Klangs«. Der Film weiß: »Diese Flöten unterscheiden sich ganz enorm von anderen durch das sogenannte Voicing. Es sind Flöten mit riesigem Volumen, wahre Trompeten ...«
MHa: So treten im Film als Mitstreiter des Weltstars in Nebenrollen die Brüder Sebastian und Joel Meyer auf, ihres Zeichens Blockflötenbauer und Söhne des im Jahr 2016 verstorbenen »Maître Flutier«, Ernst Meyer.
NT: Prinzipiell ist es ja begrüßenswert, wenn gezeigt wird, dass es im Blockflötenbau durchaus Nachwuchs gibt. Vor dem Hintergrund alteingesessener renommierter Blockflötenbauer und der ganzen aktiven Zunft mag es jedoch befremdlich wirken, dass ausgerechnet mit den Meyer-Brüdern erst seit zwei Jahren selbständig Aktive ausgesucht wurden und sie überflüssigerweise auch noch als die Krone allen Könnens dargestellt werden. Mit gesundem Menschenverstand hat das wenig zu tun – da, wie jeder weiß, im Instrumentenbau viel Erfahrung nötig ist –, auch wenn beide verständlicherweise auf dem Hype des verstorbenen, tonangebenden Vaters ihr Geschäftsmodell aufzubauen versuchen.
DaLa: Die Meyer-Brüder wurden wohl deshalb ausgewählt, die Zunft der Blockflötenbauer im Film zu repräsentieren, weil sie eng mit Maurice Steger zusammenarbeiten. Die überflüssige Aussage Sebastian Meyers »Ich hasse die Blockflöte eigentlich« bzw. seine Versuche, die Blockflöte mehr wie ein Streichinstrument klingen zu lassen, hätten ihn sofort für eine Mitwirkung am Film disqualifizieren müssen.
Man stelle sich die umgekehrte Situation in einem seriösen Film über die Geige vor, in der ein junger Geigenbauer sagt, dass er das Instrument wirklich verabscheut und versucht, es wie eine Blockflöte klingen zu lassen …
WvH: Eine Blockflöte klingen zu lassen wie eine Geige. Huh?!? Wieso? Geige ist Geige, Saxofon ist Saxofon und Blockflöte ist Blockflöte, oder … ?!? Ich würde dann sagen: Baue Geigen und sofort Hände weg von der Blockflöte!
MZ: Was für ein eigenartiges Selbstverständnis! Kein Geigenbauer käme auf die Idee, sein Instrument nicht nach Geige klingen zu lassen! Wird hier nicht wieder dem latenten Minderwertigkeitskomplex vieler BlockflötenspielerInnen Vorschub geleistet? Endlich eine Blockflöte, die wie eine Trompete klingt! Dazu immer wieder das lächerliche Argument, dass man mit diesen Flöten die »großen Säle« füllen könne. Wie viele von uns spielen in philharmonischen Sälen? Und wenn, weshalb dann nicht ganz ehrlich (technisch) verstärkt? Da gibt es inzwischen ausgefeilteste Möglichkeiten, die den Klang seiner Natürlichkeit nicht berauben – oder eben eine wirklich »moderne« Blockflöte einsetzen. Es gibt viele Mitschwimmer auf der Welle der »Historischen Aufführungspraxis«; nur wird sie dort, wo es gerade nicht ins Konzept passt, gerne mit Füßen getreten. Der »flauto dolce« des Barocks trug nicht umsonst diesen Namen. So sehr der Wunsch nach »groß klingen« (eine romantische Vorstellung gewiss) psychologisch verständlich ist – die Barockblockflöte und das originale barocke Repertoire sind meines Erachtens das falsche Feld dafür, so sehr auch Maurice Steger und die Meyerflöten dies suggerieren mögen.
WvH: Genau, völlig einverstanden!
HDM: Es kann ja jeder neue Sachen probieren – das ist nicht das Problem – aber die historischen Vorbilder klingen und sprechen halt anders.
NT: Es wird doch betont: »Das große Voicing – das macht eine Meyerflöte so unverwechselbar!«
GMK: Wenn man diesen Klang hört, scheint mir jedes Maß verlorengegangen zu sein. »to voice« heißt auf Deutsch »intonieren«, übrigens nicht zu verwechseln mit »stimmen«. Intonieren betrifft alles, was mit Klang zu tun hat: Kernspalte, axial gerichtet oder nicht, Höhe der Stufe, Labium, Aufschnitt etc.
Diese Flöten haben nicht den geringsten Charme oder die Brillanz des Klangs einer Trompete, insbesondere nicht den einer historischen Trompete.
Es ist außerdem unrichtig, wenn Meyer-Adepten behaupten (wie schon öfters vernommen), Originalflöten seien generell in unspielbarem Zustand. Selbstverständlich gibt es Flöten in desolatem Zustand wie die Heitz-Flöte im Händelhaus Halle, oder auch unvollständige erhaltene wie 15 der 33 Bassblockflöten von Johann Christoph Denner.
Ich besitze selbst zwei Originalblockflöten in mäßig gutem bzw. gutem Zustand. Auf jeden Fall kann man hören, welche hervorragenden Qualitäten den Instrumenten innewohnen. Es gibt darüber hinaus wirklich zahlreiche Originalinstrumente in Museen und Sammlungen weltweit in teilweise hervorragendem Zustand. Zahlreiche Bressan-Altflöten beispielsweise in verschiedenen Sammlungen, die ich kenne, sind in gut spielbarem Zustand, sie spielen sogar sehr viel besser als viele neue Kopien!
Die Meyers haben offenbar auch das Folgende nicht verstanden: Was Fasen (schräge Kanten südlich an Block und Oberbahn) und Aufschnitt (Abstand vom Ende der Kernspalte zum Labium) angeht, gibt es ein deutliches Verhältnis: kleine Fase – großer Aufschnitt. Bei originalen Barock-Blockflöten und noch extremer bei originalen Renaissance-Blockflöten lässt sich feststellen, dass grundsätzlich eine relativ kleine Fase mit einem relativ großen Aufschnitt kombiniert wird. Dabei haben Renaissance-Blockflöten mit (sehr) kleiner Fase (oder gar keiner) und (sehr) hohem Aufschnitt und schwach konischem Bohrungsverlauf einen stärker oktavialen Klang als Barockflöten mit stärker duodezimalem Klang durch einen stark konischem Bohrungsverlauf und weniger extremem Fase-Aufschnitt-Verhältnis: (oktavial: starker 1. und 2. Teilton = Grundton und Oktave, schwächerer 3. Teilton = Quinte; duodezimal: starker Grundton, schwächerer 1. Teilton und stärkerer 3. Teilton).
Es ist außerdem völlig unnötig anzunehmen, dass z. B. Fasen sich im Alterungsprozess merklich verkleinert hätten. Wenn das so wäre, dann würde sich dies im Tausendstelmillimeterbereich befinden. Wenn die Meyers das glauben und daher die Fasen vergrößern, irren sie sich gerade hier.
Ich habe das mal bei der Valiani-Bassett-Blockflöte (um 1500, heute im MIM Leipzig) berechnet, und zwar ausgehend von der Differenz zwischen Ist-Länge und Soll-Länge. (Ist-Länge ist die heutige, tatsächliche Länge, Soll-Länge die wahrscheinlich ursprüngliche, die sich aus der entsprechenden lokalen Maßeinheit ergibt). Dabei geht man davon aus, dass die Flöte geschrumpft ist, also kürzer geworden ist.
Das Ergebnis mit dem entsprechenden Vorbehalt war: Die prozentual errechnete Differenz übertragen auf z. B. Durchmesser der Bohrung liegen im Hundertstelmillimeterbereich und können vernachlässigt werden! Übertragen auf Maße der Fasen befindet man sich im Tausendstelmillimeterbereich. Entsprechendes gilt auch für andere Parameter (Eingangsweite u. a.).
Allerdings sei darauf hingewiesen, dass Kopien heutzutage in Bezug auf das Verhältnis Fase/Aufschnitt überwiegend ein den Originalflöten gegenteiliges Verhältnis aufweisen, nämlich große Fase in Kombination mit kleinem Aufschnitt. Diese scheinbar unerhebliche Veränderung ist mitverantwortlich für einen »flachen« Ton, ohne »Tiefe«, von Theodor Adorno die »läppische Flöte« genannt.
Viele (manche?) laufen ganz schnell in eine Richtung ohne gewahr zu werden, dass es die verkehrte ist (Martin Skowronek, ungefähr 1986, zitiert aus dem Gedächtnis).
Hielte man sich an Proportionen, die Originalinstrumente vorgeben – absolute Maße sind keineswegs das entscheidende Kriterium –, würde man feststellen, dass das Resultat dem faszinierenden Klang vieler Originale nahekommen kann.
BB: Die Äußerungen der Meyers taugen eigentlich nur für Laien.
NT: Die Gefahr ist aber, dass viele Studenten das unreflektiert repetieren und verinnerlichen (siehe den Bericht zum »7. Forum Blockflöte in Nürnberg« im Windkanal 2018-1).
TB: Das Wort »Voicing« bezeichnet zunächst einmal nur die Gestaltung des Windkanals und der Fasen an Oberbahn und Block. Orgelbauer bezeichnen diese Arbeit als »Intonieren«. Details beschreibt der im Instrumentenbau wesentlich erfahrenere Tim Cranmore in »Obedience Training for Recorders« mit hervorragender Sachkenntnis und dabei wesentlich humorvoller. Letztendlich ist das von ihnen apostrophierte »große Voicing« auf Fred Morgans Rekonstruktion der Ganassi-Flöte zurückzuführen, welche wiederum die Entwicklung der modernen harmonischen Instrumente befruchtete. Stanesby und Bressan bauten für Salon und Boudoir, warum sollte man in der Akustik der heutigen großen Konzertsäle also nicht gleich auf die modernen Instrumente zurückgreifen? Dieses wäre ehrlicher, als über die äußere Form des Instruments – wie im Gelsenkirchener Barock – eine nicht vorhandene Historizität vorzutäuschen.
NT: Steger spricht bei Meyer von »einer großen Entwicklung in einen neuen instrumentalen Klang, welche sich ganz klar auf historische Klangfarben bezieht und beruht.«
GMK: Dieser Meyer’sche Instrumentalklang bezieht sich ganz klar NICHT auf historische Klangfarben!
MS: Alle BlockflötistInnen, die sich ernsthaft unserem Instrument widmen, wissen ganz genau, dass, um gute Blockflötenbauer zu werden, man Jahre an Erfahrung braucht, die Zusammenarbeit mit guten Spielern, historische Recherchen usw. Es gibt weltweit eine gewisse Anzahl von Blockflötenbauern, die seit Jahrzehnten die Charakteristiken und Abmessungen von historischen Blockflöten und sogar von Windladen Venezianischer Orgeln des 16. Jahrhunderts untersuchen, um ihre persönlichen Ideen bezüglich Tonfarbe, Klang-Charakteristik, Intonation usw. zu entwickeln. Persönlich kenne ich die Gebrüder Meyer nicht. Nur halte ich zumindest Aussagen für gewagt, man sei bei ihren Instrumenten »nicht irgendwie so gefangen im engen Windkanal«; sonst habe man »da nur eine Möglichkeit reinzublasen und kommt vielleicht was raus«. Es scheint mir, dass da wohl auch bei originalen Denner- und Bressan-Blockflöten »was raus« kam, die sicher keine Instrumente »mit riesigem Volumen, wie wahre Trompeten« waren. »Flauto dolce« nannte man nicht umsonst unser Instrument. Angenommen, dass jeder die Freiheit hat, seinen persönlichen Klang zu entwickeln, frage ich mich trotzdem, wie dieser trompetenartige Sound einer Barock-Blockflöte »sich ganz klar auf historische Klangfarben« überhaupt beziehen und darauf beruhen kann.
Noch etwas darüber: Liest man Lehrwerke von Ganassi (1535) bis zu Quantz (1752), merkt man sofort, dass die Ästhetik der Alten Musik auf klangliche Finessen und Nuancen gestützt war. So eine Blockflöte zu benutzen, mit der kaum anderes als forte und glatt gespielt werden kann, finde ich sehr merkwürdig.
WvH: Mir klingen die Meyer-Instrumente alle sehr hell, laut, reagieren schnell und sind extrem leicht zu spielen. Ich habe mehrere Vivaldi- und Corelli-Fragmente auf einigen solchen Flöten ausprobiert, auch in Steger-Tempi und das ging sehr leicht. Aber alles klingt sehr glatt und es gibt kaum eine klangliche Feinheit.
AW: Ein Punkt, den ich für mich hervorheben möchte, ist der der (Klang-)Ästhetik. Zwar ist diese in vielerlei Hinsicht Geschmackssache – aber sicher ist der Steger-Klang, wie im Film behauptet, auch nicht absolut zu sehen; denn auch dieser ist Geschmackssache und korrespondiert nicht zwingend mit der ästhetischen Klangvorstellung anderer Profiblockflötisten bzw., um mit dem Vokabular des Films zu sprechen, Blockflötenstars der Gegenwart und auch der Vergangenheit. Ich war wegen dieses Punktes so glücklich, u. a. die Namen von Walter und Winfried und einigen anderen zu lesen, denn spontan musste ich an den großen Ästheten des Blockflötenklangs Frans Brüggen denken. In einem Meisterkurs hat er einen Studenten eine ganze Stunde lang nur einen einzigen Ton eines Stückes spielen lassen, so lange, bis er dem »Idealton« immer näher kam. Was man davon pädagogisch halten soll, ist eine Sache; jeder im Raum hat aber verstanden, was er damit sagen wollte. Und es ging um einen Flauto-dolce-Klang – nicht um einen Geigen- und nicht um einen Trompetenklang. Der Klang, der in diesem Film rund um Steger zelebriert wird, sowohl vom Instrumentenbautechnischen her als auch vom Spielerischen her, ist wirklich nicht der, den andere als Ideal haben, und er ist schon gar nicht allgemein verbindlich oder revolutionär. Er entspringt einer individuellen Idee und widerspricht dem Gedanken der Qualität statt Quantität der Töne.
GC: Meiner Meinung nach birgt diese Forschung nach einem vergrößerten historischen Klang das Risiko eine genauso respektierte Tradition abzustoßen, die weder ausgestorben noch bei schlechter Gesundheit ist.
HA: Unlängst hatte ich nach anderen Papieren gesucht, aber da kamen mir zwei Nachrufe auf den Blockflötenbauer Ernst Meyer in die Hände – einer von Erik Bosgraaf und der andere von Maurice Steger. Bosgraaf bezeichnet Ernst Meyer als den größten Blockflötenbauer unserer Zeit, als Stradivarius der Blockflöte (Meyer hat sich wohl selbst diesen Titel gegeben: siehe auch Portrait im Bieler Tagblatt vom 25.07.2012). Bosgraaf hat vielleicht noch nie Originalinstrumente von Stradivari gesehen, Instrumente, die handwerkliches und künstlerisches Können in höchster Güte zeigen. Von »marvels of unsurpassed beauty« bei Meyer-Flöten zu sprechen (Bosgraaf) ist schon arg übertrieben. Meyer hatte nicht annähernd die handwerklichen Fähigkeiten eines Stradivari oder eines Bressan, um nur einen der begabtesten historischen Flötenbauer zu nennen. Eines bin ich mir aber ziemlich sicher: Kein seriöser Streicher würde ein Streichinstrument in vergleichbarer Meyer-Qualität akzeptieren – sei es in baulicher Ausführung oder mit derart extremen klanglichen Eigenschaften.
Im ARTE-Film zeigt die Kamera wirksam auf der Werkbank in der Meyer-Werkstatt einen tollen Blockflötenbauplan – die wenigsten Zuschauer werden allerdings gemerkt haben, dass dieser von Fred Morgan stammt!
Ich frage mich, ob Ernst Meyer überhaupt je originale Blockflöten in den Händen gehabt hat, geschweige denn, ob er je welche untersucht und allenfalls vermessen hat. Wäre dies der Fall, hätte er durch Beobachtung festgestellt, dass er noch einiges zu lernen hätte und sein handwerkliches Können verbessern müsste.
In meiner Werkstatt steht im Regal eine Altblockflöte in F moderner Stimmung von Ernst Meyer – nagelneu und ungebraucht, die mir eine Bekannte überlassen hat. Es ist wahrlich ein schlechtes Beispiel Meyer’scher »Kunst« und steht darum als Warnung bei mir im Regal. Sie zeigt lausige Details des Handwerks, wie z. B. einen schlecht eingepassten Block (mit Siegellack fixiert), ein unsauber geschnitztes Labium, mittelmäßige Drechslerei, und nicht mal die Grifflöcher sind in einer geraden Linie auf dem Rohr gebohrt. Klanglich ist diese Flöte weit davon entfernt, was gewisse Musiker so lautstark propagieren.
Das tiefe Register ist schwach und instabil, d. h. die Töne überschlagen sich leicht und einen Klang um große Räume zu füllen hat sie auch nicht. Natürlich hat Ernst Meyer auch gute Blockflöten gebaut, aber das haben andere auch. Jeder zeitgenössische Blockflötenbauer könnte davon erzählen, wie lang und schwierig der Weg ist, bis man in der Lage ist, tolle Blockflöten zu bauen, die den historischen Originalen nahe oder gleich kommen. Hat man dieses Stadium erreicht, steht jedem ein eigener Weg offen. Erfahrung, Geschmack und Vorlieben in den Möglichkeiten der Blockflöte entscheiden die Richtung. Es ist schwierig, den Unterschied zwischen den besten historischen Blockflöten und Meyer-Flöten zu beschreiben. Bei manchen Aufnahmen mit Instrumenten von ihm gebe ich zu, dass sie für das Mikrofon angenehm sind; aber dann kommt oft dieses hässliche Rauschen in der Höhe. Und öfters hört man auch, dass seine Flöten schon während der Aufnahme müde werden. Höre ich dann eine CD mit diesen Flöten, verliere ich bald das Interesse, denn klanglich ist von Anfang bis Ende vieles gleich, oder eben eintönig.
Solches könnte ich beim Anhören mit Musik auf originalen Blockflöten nie sagen. Da sind von den Instrumenten selbst zu viele Farben drin, dass man nie satt wird. Frans Brüggen sagte einmal in etwa: Die historische Blockflöten sind gefährlicher (als moderne Blockflöten), d. h. auch anspruchsvoller im Umgang. Dass man aber auf diesen Originalen hervorragend musizieren kann, haben ja Künstler wie u. a. Frans Brüggen, Kees Boeke, Walter van Hauwe und in neuerer Zeit Peter Holtslag (auf dem Album »Awakening Princesses«, Aeolus Verlag) eindrücklich bewiesen.
Maurice Steger schreibt in seinem »In Memoriam Ernst Meyer«: »Es wird einen steinigen Neuanfang geben müssen«. Das ist aus meiner Sicht auch recht so.
Die Gebrüder Meyer haben vorerst von verschiedener Seite viele Vorschuss-Lorbeeren erhalten. Zwar haben sie vom Vater Werkstatt und den Ruf geerbt. Aber ob die beiden im Bau von Blockflöten fachlich wirklich etwas drauf haben oder vor allem nur groß angeben können – Promotion von Steger & Co. hin oder her – , das müssen sie erst noch beweisen. Ich jedenfalls würde ihnen raten, mit Bescheidenheit und Fleiß an die Arbeit zu gehen und den steinigen Weg selber zu gehen, bevor sie vollmundig die Liste ihrer berühmten Kundschaft verkünden.
MHa: Ich vermisse schmerzlich zwei Namen von wirklich bedeutenden Instrumentenmachern unserer Zeit: Friedrich von Huene und Fred Morgan! Bei der Gelegenheit sei doch gleich eine Publikationen empfohlen: Geoffrey Burgess »Well-Tempered Woodwinds – Friedrich von Huene and the Making of Early Music in a New World« (Bloomington und Indianapolis: Indiana University Press, 2015).
UV: Es ist eine unsägliche Nichtachtung der wirklichen Pioniere des Blockflötenbaus als auch der großen Hersteller und zahlreichen kleinen Werkstätten und Einzelbauer, die in kontinuierlichem Kontakt mit den Spielern durch Rekonstruktionen wie auch moderne Weiterentwicklungen und neue Erfindungen seit Jahrzehnten ein niveauvolles Spiel auf den verschiedensten Flötentypen(!) ermöglichen, wenn Neulinge auf dem Gebiet des Blockflötenbaus derart gehypt werden.
NT: Willkommen im Neo-Bieder-Meyer … ?
Schauplatz Gstaad
»Barockakademie Gstaad. Maurice Steger gibt einen Meisterkurs. Und gibt sein Wissen weiter an die nächste Generation.« Im ARTE-Film zu sehen sind Szenen aus Unterricht und Abschlusskonzert.
NT: Kurze Information am Rande: Bei der hier genannten Akademie handelt es sich nicht um eine hochschulische Einrichtung, sondern, eher im altgriechischen Sinn, um eine lose Gesellschaft zum Zweck der musikalischen Erbauung. Einmal im Jahr finden im Schweizer Prominentenferienörtchen Gstaad unter dem Dach des Gstaad Menuhin Festival auch verschiedene Akademien statt, die sich laut deren Webseite u. a. an »junge Professionals« richten. Die einwöchige Gstaad Baroque Academy unter der Leitung Maurice Stegers zieht ambitionierte NachwuchssolistInnen aus aller Welt an. Das Ganze hat den Charakter sommerlicher Musikfreizeiten, und man wohnt zusammen wie in einem Schullandheim – also eine im Prinzip gutzuheißende gemeinschaftsbildende Initiative. Exklusiv mit von der Partie: die Meyer’sche Werkstatt.
MS: Hat denn einer der von Maurice Steger unterrichteten Studenten nur solche Hinweise über Frühbarocke-Musik erhalten, wie »nicht zu sehr vorausdenken, nicht zu sehr planen – wir sind nicht ein Büro für Hausplanung von deutschem Straßenbau«? Dann frage ich mich ernsthaft, welche Auskünfte wird er selbst seinen zukünftigen Studenten über italienisches Seicento erteilen können.
MZi: Es ist irgendwie erschreckend. Kernaussage des »nicht planen und nicht vorausschauen« ist doch: »Du kannst machen was du willst!«
TB: Die Fähigkeit einer gewinnbringenden Gestaltung von Meisterkursen ist beileibe nicht allen erfolgreichen Sängern und Instrumentalisten geschenkt worden. Ich habe höchst hilfreiche mit Christa Ludwig und Richard Miller erlebt, weniger gelungene mit Elisabeth Schwarzkopf und Dietrich Fischer-Dieskau, die Schwierigkeiten hatten, ihr hohepriesterliches Künstlerego zu disziplinieren. Ein gelungener Meisterkurs setzt ein aufrichtiges uneitles Interesse am Weiterkommen der Schülerschaft, eine genaue Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, Hilfestellungen präzise zu verbalisieren voraus. Wenn aber bereits vorab Bemerkungen fallen, wie »25 Minuten, da müssen die kleinen Prinzessinnen halt pünktlich im Saal sein« und zu einer Bach-Sonate nur gesagt wird, dass man sich in einem so jungen Alter noch auf der »Erlebnistour« mit diesem Werk befände, ist das etwas ärmlich.
Auch ist es demonstrativ nett, eine begabte Schülerin die unterschiedlichen Arten der Doppelzunge vorführen zu lassen, auf dass diese eventuell von Konzertveranstaltern bemerkt werde. Interessanter wäre es aber allemal gewesen, Lehrer und Schülerin bei der Erarbeitung einer intrikaten Doppelzungenpassage beobachten zu dürfen.
HDM: Ganz genau! Der Zusammenhang mit musikalischer Aussage war nicht das Thema, sondern hauptsächlich verschiedene Arten von »schnell«.
DaLa: Der Cameo-Auftritt Laura Schmids zum Thema Doppelzunge, in dem sie Musik des Barockkomponisten Francesco Maria Veracini spielt, wirft auf verwirrende Weise Artikulationssilben von Renaissance, Barock und Romantik in einen Topf. Heutige moderne Spieler können selbstverständlich alle beliebigen Silben verwenden; vom Standpunkt der historischen Aufführungspraxis aus betrachtet, sind jedoch einige der von ihr vorgeführten Silben anachronistisch.
MZi: Ein Wort zur Artikulation: Die Doppelzunge, wie hier demonstriert, ist und war naturgemäß eine Hochgeschwindigkeitsartikulation. Inwieweit »te-ke« (staccatissimo) im Barock durchgehend angewendet wurde (außer vielleicht um Schreckliches auszudrücken), sei dahingestellt. Aber dass die damals am weitesten verbreitete Doppelzunge »did’ll« zwar erwähnt, aber nicht vorgeführt wird, lässt doch tief blicken.
NT: Was man nicht sieht, ist die im Vorfeld geleistete langjährige Aufbauarbeit durch die eigentlichen Lehrer des Nachwuchses.
HML: Das leider recht wirre Drehbuch verschweigt überhaupt sehr Vieles. U. a. fehlen Hinweise auf den schon längst erfolgreich beschrittenen Weg der Blockflöte in den fernen Osten, in die USA und nach Südamerika. Und kein Wort zu den seit Jahrzehnten existierenden reichen Studienmöglichkeiten, Seminaren und Festwochen auf hohem professionellen Niveau ...
MS: Meiner Lehrerfahrung nach ist der junge Student, der im Video Corelli spielt, musikalisch durchaus begabt. Er macht z. B. schöne Verzierungen, aber so voller falscher Noten kann man ein einfaches Allegro von Corelli nicht spielen. Das ist wahrhaftig keine »Perfektion« und keine »unübertroffene Meisterschaft«, wie die Erzählerin kommentiert.
Der verstorbene Cembalist Nicolau de Figueiredo warnte seine Studenten, dass sie im Basso-continuo-Spiel nicht unbedingt viele und schnelle Noten brauchen: wichtig vor allem sei, jede Note klar und deutlich zu spielen.
Superlative
MZi: Ein Wort zu den Superstars und dem höher-weiter-schneller-Streben: Die Menschheit hat von jeher Zirkusartisten mit waghalsigen Kunststücken, Gladiatoren, Formel-1-Fahrer und Free-Climber bewundert. Übermenschen sozusagen, deren Leistungen für den Durchschnittsmenschen unerreichbar waren. Durch die Möglichkeit alles und jedes unendlich wiederholbar zu machen (Youtube-Videos, CDs etc), steigt naturgemäß die Reizschwelle. Subtile klang-
liche Unterschiede, zarte Farbnuancen, differenzierende Artikulationen usw. werden nicht mehr wahrgenommen. Hornhaut auf dem Trommelfell gewissermaßen. Deshalb vielleicht auch das totale Aussparen der französischen Barockmusik?
WM: Das Wichtigste: Für dieses Produkt sind weniger Akteure und Regie verantwortlich als wir, die wir seit Jahren Kulturfastfood (zu Deutsch: YouTube) nutzen:
Da ist kein Platz für eine wundervolle französische Allemande von Dieupart oder Hotteterre, die, in mäßiger Bewegung gespielt, nur als Ganzes wirken kann: Gefragt und möglich ist dann schnelles An- und Ausknipsen rasanter Fingerbewegungen und Körperzuckungen, Struktur und Tiefe kommen nicht in Betracht. Da haben wir den Salat – nostra culpa.
WvH: Der Film weiß: »Maurice Steger ist spezialisiert auf Barockmusik – sogenannte Alte Musik« und informiert, »in der Barockzeit spielte die Blockflöte eine große Rolle«.
Falsch: In der Barockzeit spielte die Blockflöte die kleinste Rolle bei den Blasinstrumenten!
NT: Beim Filmausschnitt einer beim Kurs gespielten, mit vielerlei Trillern bepackten Triosonate kam mir in den Sinn, dass per Pseudo-HIP-gedecktem Freibrief freigeschaltete Barockmusik heutzutage leider allzu oft als willkommene Einladung zur schrankenlosen Verunstaltung von Musik verstanden wird. Kaum vorstellbar, dass sich jemand selbiges in späteren Musikepochen wie der Klassik, Romantik und der klassischen Moderne leisten würde.
MS: Wir Blockflötenspieler hatten leider fast niemals die Möglichkeit, uns etwa an der Persönlichkeit eines Bronislaw Huberman, an der technischen Perfektion eines Heifetz oder am Standard der Ojstrachs zu messen und uns damit auseinanderzusetzen. Ich habe nicht die Absicht, irgendjemandem keinen Respekt entgegenzubringen. Ich meine einfach, dass es Instrumente gibt, deren Diskografien Hunderte von Aufnahmen der größten und prominentesten Solisten zählen, die wie Prüfsteine sowohl für den Rest der Musiker als auch für das Publikum stehen. Ganz gleich, wen wir von beiden mehr schätzen, aber ein Vengerov oder ein Kavakos spielen Tschaikowskys Violinkonzert perfekt. Und Tschaikowsky ist spieltechnisch nicht Vivaldi. Das ist es, was der Blockflötenwelt heute meiner Ansicht nach fehlt. Und ich selbst möchte mich hier nicht ausnehmen.
Andererseits ist es eine faule Ausrede. Hatten wir vielleicht auch keinen Heifetz (dessen Discographie 65 CDs umfasst), so sind wir dennoch Musiker und sollten wissen, was gut und was falsch klingt. Wir sollten in der Lage sein zu erkennen, ob ein Solist sein Instrument wirklich beherrscht oder nicht. Und doch stehen wir immer wieder mit offenem Mund da, wenn dieser oder jene super schnell (selbst wenn in einigen Solopassagen kein Ton stimmt), super forte und mit einer inzwischen weit verbreiteten Quasi-Sputato-Artikulation spielt, die so niemals vor dem 20. Jahrhundert verwendet wurde.
NT: Fachkundige Ohren mit Erfahrung werden bestätigen: Was hier in weiten Teilen als »neuer Sound« und stupendes Können verkauft wird, war und klingt genauso gut oder schlecht, wie bereits vor mehreren Jahrzehnten. Im Timbre vielleicht insgesamt etwas banaler, aufgeblasener und weniger elegant sowie vielleicht ein bis zwei Dezibel lauter als früher. Ach ja, auch etwas schneller wird gespielt. Aber, wer braucht das wirklich? Möchte ich, wenn ich ergriffen und gut unterhalten werden will und beispielsweise ins Theater gehe, dass die Schauspieler das Stück möglichst schnell und dann zwangsläufig in wesentlichen Teilen unverständlich herunterquasseln? Jubelt da jemand, wenn ein Theaterstück einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufstellt? Ich frage mich wirklich, auf welchem Niveau wir uns bewegen. Mit den Werten Alter Musik hat das jedenfalls rein gar nichts zu tun.
MZ: Ein ausgezeichneter Vergleich! Daran kann man schön erkennen, dass die Historische Aufführungspraxis nur als verkaufsförderndes Etikett herhalten muss, denn das olympische »schneller–höher–weiter« widerspricht geradezu jeglicher rhetorischer Kunst. Und es demonstriert, wie sehr inzwischen die Hülle über den Inhalt dominiert.
MS: Noch etwas dazu, auch wenn es nur um meine Meinung geht. Ich habe immer gefunden und meinen Studenten beigebracht, dass es viel mehr Virtuosität in so einer Ausführung gibt, die sich mit sorgfältigen Nuancen, Bindungen, Schattierungen, (Mikro-)Dynamiken usw. darstellt und in der alle Musiker einen Dialog führen.
Karrierefimmel
MHa: Ich hoffe nur, dass Maurice Steger den jungen Leuten, für die er durch die Zusammenarbeit mit ihnen in gewisser Weise auch Verantwortung übernimmt, immer wieder klarmacht, dass es nur ganz Wenige bis an die Spitze schaffen können! Das Gros wird sich – wenn es mit der Blockflöte irgendwann seinen Lebensunterhalt bestreiten will – auf die pädagogische Arbeit fixieren müssen. Und auch da ist bei der Vielzahl derer, die jährlich die Hochschulen mit einem Diplomabschluss in unserem Fach verlassen, die Futterkrippe längst nicht mehr so voll, wie sie es früher einmal war.
UV: Es ist unsäglich und völlig verantwortungslos, zu suggerieren, dass eine Vielzahl von jungen Spielern »sich auf eine Solokarriere vorbereiten« könnten und sollten!!! Die Situation der Tausenden von maximal hervorragenden Pianisten, Streichen, Querflötisten etc. führt doch überdeutlich vor Augen, dass der Musikmarkt das nicht hergibt.
Für mich als Spielerin geht es immer darum, Musik machen und erleben zu dürfen, dieses Erleben durch Konzerte mit anderen Menschen zu teilen und ihr Leben so durch eine ganz besondere, nonverbale Dimension zu bereichern. Für mich als Lehrerin geht es darum, Menschen jeden Alters, wirklich jeden Alters vom kleinen Kind bis zum sehr alten Menschen und jeden, wirklich jeden Spielniveaus die Kraft der Musik im eigenen Spiel zu erschließen. In diesem Sinne bilde ich auch meine Studenten aus und sehe mein höchstes Ziel darin, sie einen absolut eigenen (Lebens-)Weg mit der Blockflöte und der Musik finden zu lassen.
MZi: Ich möchte dem Kommentar von Ulrike Volkhardt in seiner Gänze zustimmen. Einen für mich wichtigen Aspekt, der, wenn er im Film kurz angesprochen wurde, völlig in die falsche Richtung deutete, ist die Pädagogik im Allgemeinen und die Verantwortung der Dozenten für die Zukunft ihrer Studierenden im Besonderen. Das Bild, das hier entsteht, ist doch, dass es, wenn man nur bei DEM Richtigen studiert, ein Leichtes ist, mit der Blockflöte (mit welcher eigentlich?) eine SOLISTEN-Karriere zu machen. Das ist in meinen Augen grob fahrlässig. Man soll keinem jungen, talentierten Blockflötisten seine Ideale zerstören, aber man sollte ihm von Anfang an reinen Wein einschenken, wie die Realität da draußen in der rauen Welt wirklich aussieht. Und: das Unterrichten, egal auf welcher Stufe, kann Spaß machen und Befriedigungen auslösen, wenn man es mit dem notwendigen Rüstzeug angeht. Dieses muss man aber erlernen, es ist nicht gottgegeben, auch nicht wenn man schnelle Finger und eine flinke Zunge hat. In den Hochschulen unseres Landes wirken so viele exzellente Fachkollegen, in den Verlagen findet man hervorragende Literatur, in Fachgruppen, in der ERTA und vielen weiteren Institutionen geht die Entwicklung des Blockflötenspiels wirklich weiter, dort findet man die echten HELDEN. Dass es, zumindest in Deutschland, mit der pekuniären Vergütung nicht zum Besten steht, ist leider ein anderes, wenngleich auch besorgniserregendes Problem. Dies wäre doch auch ein Thema für den Film gewesen um die Öffentlichkeit wachzurütteln. Diesen Film jedoch braucht die Welt wirklich nicht!
Die Blockflöte als Seelenspiegel
TB: Steger selbst spricht von der Blockflöte als »Seelenspiegel«, als »etwas, was ich mit niemandem teilen musste.« Das ist zwar schön im poetischen Sinne, aber man hätte doch gern etwas mehr über seinen Werdegang erfahren.
GK: Hier wäre eine der vielen verpassten Chancen für Maurice Steger gewesen, sich selbst als Teil eines großen Ganzen darzustellen: Zu erwähnen, von wem er in seiner musikalischen Entwicklung gelernt und profitiert, wer ihn inspiriert und motiviert hat – schlichtweg andere bedeutsame Blockflötisten zu nennen, Anerkennung, wenn nicht Bewunderung für andere, die schon Meilensteine für die Blockflöte markiert haben, zu zeigen. Es scheint aber wirklich die Absicht des Films zu sein, dies nicht zu tun und seinen Protagonisten als Einzelkämpfer und Ausnahmeerscheinung zu präsentieren. Völlig merkwürdig wirken die Andeutungen auf die »schiefgegangenen ersten Versuche« vom Blockflötenspiel des »sehr jungen« und sehr kleinen Maurice Steger in seinem Dorf, sowie die verwirrenden Ausschweifungen über die »Paarung der Liebe mit der Herausforderung« und den »Seelenspiegel«.
Auch hier stellt sich wieder die Frage: hat er das wirklich so abgesegnet? Das fällt mir so schwer zu fassen ... wie so viele andere Dinge, die im Film völlig unzureichend dargestellt oder verschwiegen werden.
HDM: Stichwort »Musikerportrait«: Man sieht das heute öfter, dass sich Interpreten so darstellen, als hätten sie allein und unabhängig das Rad neu erfunden. Auch Maurice steht in einer Tradition, und es wäre wichtig, deren Geschichte aufzuarbeiten.
HML: Zusätzlich wirken auf mich persönlich das Spiel, interpretatorisches Herangehen und die Auftritte von Herrn Steger als sehr auf Show ausgerichtet. Das mag man akzeptieren oder auch nicht – das ist Geschmackssache …
HDM: Die Blockflöte ist ein im besten Sinne »bescheidenes« Instrument, das am besten von innen heraus überzeugt, da der Schein der Einfachheit trügt.
NT: Könnte es sein, dass Musik, insbesondere Alte Musik, recht viel mit Demut zu tun hat?
GC: Ist die sogenannte Alte Musik noch heute ein Produkt eines aufführungspraktischen Ansatzes, oder nicht mehr? Ist der »alte« Klang noch heute der Wiederaufbau eines alten Klangs, auch Dank der Verwendung alter Instrumente bzw. deren Nachbauten, oder nicht mehr? Ist der Musiker (d. h. jemand, der Alte Musik mit Original-
instrumenten spielt) noch ein Entdecker, der historische Forschung zur Musik durchführt, die er spielt? Kann (ich sage: heute noch!) ein Musiker ein Musiker sein und ein Musiker bleiben, ohne die unvermeidbare Notwendigkeit, um jeden Preis ein Weltstar werden zu wollen?
» ... etwas ganz Neues wagen«
Filmzitat: »Maurice Steger steht an der Spitze. Jeder der jetzt nachkommt, muss etwas Neues bieten – mitunter etwas ganz Neues wagen.«
NT: Hier hört man den Ausschnitt eines Arrangements der berühmten Melodie »Morgenstemning« aus »Peer Gynt« op. 46 von Edvard Grieg, dargeboten von Newcomern namens Hanke Brothers. Die Moderatorin kommentiert dies folgendermaßen: »Und David Hanke (an der Blockflöte) wagt etwas, spielt andere Musik.« Irrtum! Das hat schon Michala Petri 1999 auf ihrem Album Scandinavian Moods mit dem London Philharmonic Orchestra gemacht.
DaLa: Den Einsatz der Blockflöte in jener Art Popmusik, die die Hanke Brothers heute spielen, kann man mindestens bis zu Pamela Thorbys Konzerten und Aufnahmen mit Karl Jenkins in den 2000er-Jahren zurückverfolgen, ganz zu schweigen von der deutschen klassischen Band Spark (mit Daniel Koschitzki und Andrea Ritter), die ihre Debüt-CD 2010 veröffentlicht hat.
NT: Befragt nach seiner Motivation, sagt Blockflötenstudent David Hanke dann etwas recht Bezeichnendes: »Maurice hat ja auch eine ganz andere Klanglichkeit an den Tag gelegt, die ich auch davor so nicht kannte von Flötisten. Das wollt’ ich damals auch! Groß spielen können!«
MZ: Man kann es dieser jungen Generation fast nicht einmal übelnehmen – sie kennt es kaum anders, die »Erfolgreichen« liefern die Vorbilder. Erfolg hat heute weniger der, der exzellente musikalische Qualität liefert, sondern jener, der sein Produkt am besten lanciert, bewirbt und am lautesten trommelt (pardon, flötet).
Was ich im Beitrag schmerzlich vermisse, ist eine gewisse Demut der Musik und dem Instrument gegenüber! Es geht im Filmbeitrag im Grunde vor allem um Selbstdarstellung, die fast zur Karikatur verkommt. Machen also bloße Finger- und Zungenakrobatik die besondere Qualität der Blockflöte aus? Wie sehr haben sich die Zeiten offenbar geändert, seit sich Samuel Pepys vom süßen Klang des Instruments betören ließ!
MS: Es war am 27. Februar 1668, als Pepys von einer musikalisch umrahmten Theateraufführung tief bewegt nach Hause kam ...
MZ: Auch wenn es viele nicht gerne hören: Die Blockflöte ist nicht das Zentrum des Universums, der »moderne« Klassik-Markt »braucht« die Blockflöte ebenso wenig wie die Mandoline oder das Akkordeon. Die SpielerInnen, die heute bequem vom Konzertieren leben können, kann man weltweit an ein oder zwei Händen abzählen. Wir Blockflötenspieler müssen unseren Markt stets aufs Neue gleichsam künstlich erschaffen. Und dieser Markt ist und bleibt klein, wohingegen die Zahl gut ausgebildeter, talentierter SpielerInnen stetig wächst. Vielmehr sollten sich diejenigen, deren wahre Leidenschaft die Blockflöte ist, von Beginn an mit gleichem Feuereifer einer profunden pädagogischen Ausbildung widmen und ggf. mindestens ein Zweitinstrument professionell erlernen.
WvH: Völlig einverstanden. Ich sagte meinen Studenten immer: Die Blockflöte ist ein peripheres Instrument und fühlt sich dort am meisten zu Hause. Es ist klein, nicht größer als eine Briefmarke. Braucht sie auch nicht, will sie nicht, kann sie nicht. Dank dieser fast unsichtbaren Position innerhalb der offiziellen Musikwelt hatte ich selbst, zumindest in Amsterdam, viele Möglichkeiten für eine umfassende berufliche Weiterentwicklung der Blockflöte, sowohl im Bereich Aufführungspraxis (zuerst solistisch, später hauptsächlich mit Ensembles) als sicher auch im Bereich Pädagogik.
MS: »Jeder der [Steger] jetzt nachkommt, muss etwas Neues bieten – mitunter etwas ganz Neues wagen.« So einem Urteil kann man meiner Ansicht nach doch zustimmen, sowie auch nicht. Gewiss ist sowieso, dass es weltweit eine große Anzahl von Musikern gibt, die sich fruchtbringend der Alten-Musik und der zeitgenössischen Musik widmen, und die Blockflöte höchst erfolgreich spielen. Es gibt z. B. Blockflötisten, die sehr gut und spontan nach der Art von Ganassi und Ortiz improvisatorisch diminuieren; es gibt Musiker, sowohl in England und Holland sowie z. B. in Portugal, die in Blockflöten-Consorts spielen und Consort-Spiel-Kurse organisieren, die von Studenten aus ganz Europa besucht werden; es gibt Blockflötisten, die in feinen Mittelalter-Musik-Gruppen zusammenspielen; es gibt Musiker, die solistisch sowie in Orchester- und Opernproduktionen in einigen der berühmtesten Barockorchester mitwirken; es gibt Musiker, die immer neue Klänge und Spieltechniken im Bereich der zeitgenössischen Musik anstreben; und es gibt natürlich auch Hunderte von Blockflötisten, die unser Instrument in der ganzen Welt unterrichten.
HDM: Die Kommentare in dieser Diskussion haben essenzielle Dinge aus verschiedensten Blickwinkeln auf den Punkt gebracht. Ich wiederhole meine Grundüberzeugung, dass jeder im kulturellen Bereich Tätige zutiefst Verantwortung trägt für den gesellschaftlichen Gesamtzustand. Wir leben in einer Zeit, in der Individualismus als Mantra obenan steht. Das galt wohl ähnlich für Vivaldi, Chopin oder Liszt … – der Show-Aspekt ist nicht neu, aber augenblicklich in gefährlicher Weise überbewertet ...
Kein Zweifel, Maurice Steger und andere (!) bewegen etwas, sprechen Menschen an, und inspirieren viele. Es braucht allerdings ein gehöriges Maß an innerer Bescheidenheit und Weisheit, um dies auf der Basis von Geschichts- und Gesellschaftsbewusstsein so zu tun, dass es einbezieht und nicht dividiert. Ob die Grundidee der (Selbst-)Darstellung im Film von Maurice selbst, von Journalisten oder Media-Beratern kommt, kann ich nicht beurteilen, aber ohne Zweifel ist es Teil einer Gesamtstrategie. Es dürfte allerdings nicht leicht sein, dem so überhöhten Persönlichkeitsprofil auf Dauer zu entsprechen.
Fremdwort »Csakan«
TB: Auftritt Nik Tarasov: Jetzt wird es zum ersten Mal wirklich informativ! Mit dem Zeigen des Csakans im Film wird indirekt daran erinnert, dass z. B. auch Beethovens Schüler Erzherzog Rudolph von Österreich Werke für Schnabelflöten komponierte, die sich sicherlich im Zusammenwirken mit dem im Szenenhintergrund sichtbaren Fortepiano recht klangschön musizieren lassen.
NT: Die historische Rolle dieser Art romantischer Blockflöte ist weitaus weniger exotisch als z. B. die Daseinsberechtigung des Instruments im ganzen Frühbarock. Dennoch ist heute letzterer Gegenstand jedes Studiums – den Csakan sucht man in der akademischen Ausbildung nach wie vor vergeblich. Da kommt noch viel Überzeugungsarbeit auf uns zu. Sinnbildlich dafür ist ein kleiner aber feiner Lapsus, den sich der Film leistet: So heißt die im Film kurz als Kuriosum vorgestellte Stockblockflöte mit ihrem Fachbegriff nicht »die Csakan«, sondern »der Csakan«, was man googeln oder in Wikipedia korrekt recherchieren kann. Da selbst Maurice Steger ein konzertantes Csakan-Stück auf CD aufgenommen hat, liegt die Vermutung nahe, dass nicht einmal er zum kritischen Durchhören der Filmaussagen konsultiert wurde.
»Neuer Sound«
MHa: Nicht in das Räderwerk dieses »Konstruktes« passt der Auftritt von Nik Tarasov. Er ist bei der Rollenverteilung der »Special Guest«. Für uns Zuschauer ist seine Teilnahme eine Wohltat! Ist doch Tarasov der Einzige, der endlich einmal mit genauer und fundierter Sachkenntnis zu Worte kommt. Absolut präzise beschreibt er die Position der Blockflöte im Deutschland der 1920er- und 30er-Jahre.
HML: Der allerdings nicht geschilderte Weg vom »Volkslied-Instrument« der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts bis hin zum heutigen Steger-Sound offenbart die ganze Unwissenheit der Filmerin.
MHa: Eine ganz klare Linie vermittelt Tarasov im Bezug auf die »moderne Blockflöte«. Mit Akribie ist er bereits vor Jahren an diese Thematik herangegangen, hat probiert und getestet! Dabei ging es ihm nicht um die »Verschlimmbesserung«(!) der Barockblockflöte. Er hat etwas wirklich Neues auf diesem Sektor entwickelt und kreiert. Am Ende eines langen Weges konnte er am Ziel seine »Elody« vorstellen. Ich denke, dass er sich mit diesem Instrument wirklich einen Platz in der Geschichte der Blockflöte erobern wird! Was er mit seinem Instrument macht, ist bestechend. Vielleicht ist es noch zu früh, vom Erfolg der Elody zu sprechen. Aber im Hinblick auf die große Zahl der jungen Blockflötenspieler ist (hoffentlich) zu erwarten, dass dem Instrument in der weiteren Zukunft ein Erfolg beschieden sein wird.
TB: Die Beschränkung auf anderthalb Blockflötendesigner ist aber mehr als oberflächlich. Hier wäre es mehr als angebracht gewesen, auf die neue Generation der harmonischen Blockflöten (Moderne Alt, Ehlert, Helder, Eagle etc.) hinzuweisen.
WvH: Genau. Diese sehr interessanten Entwicklungen sind wirklich essentiell. Es könnte so wahr sein, dass, ähnlich wie bei der Gitarre, zwei Wege, akustisch und elektrisch, sowohl separat als auch parallel, sich nebeneinander verhalten und entwickeln können. Ich persönlich bin sehr zufrieden damit.
MZ: Dass Nik Tarasov vor allem einer der maßgeblichen Entwickler der sogenannten harmonischen Blockflöte war, die dem Instrument wirklich neue Klang- und Repertoiremöglichkeiten eröffnete, verschweigt der Beitrag geflissentlich.
DaLa: Eine einzige Sache empfand ich im Film als wirklich neu oder wenigstens ziemlich aktuell: Nik Tarasov demonstrierte die Elody-Blockflöte als Versuch, ein genuin zeitgenössisches Instrument mit erweitertem Tonumfang und einer größeren Vielfalt an Klangfarben mit der Elektronik zu verbinden. Solche Instrumente sind ganz sicher nicht Bestandteil irgendeines »Comebacks«, sondern geben uns aufregende Werkzeuge an die Hand, um eine gänzlich neue Klangsphäre zu erkunden. Man denke nur daran, was passierte, als die E-Gitarre das Licht der Welt erblickte …
WvH: Tarasovs Beitrag zu den Entwicklungen ist daher wichtig, weil damit tatsächlich ein neuer Klang entwickelt wird und zum Einsatz kommt. Ähnlich, ich habe das schon geschrieben, mit dieser, historisch gesehen, natürlichen Spaltung der Akustik- und E-Gitarre: Jeder spielt mit seinem eigenen Sound, mit eigener Literatur, vor eigenem Publikum. Liegt für die Blockflöte eine ähnliche Spaltung am Horizont? Meine Meinung jetzt: warum nicht? Und eigentlich ist es bereits schon tägliche Praxis, vor allem im Ensemblebereich, wo, wieder meiner Meinung nach, sich die Blockflöte von Natur aus immer wohler gefühlt hat als innerhalb der Solo-Genres (die Handvoll schöner und wichtiger Solowerke natürlich nicht zu vergessen).
»Baroque Twitter«
NT: Die ARTE-Doku endet wenig spektakulär mit einer Stippvisite bei den Aufnahmen zu Stegers nächster CD, die mittlerweile unter dem Titel »Baroque Twitter« erhältlich ist. Gewiss soll mit diesem Projekt nochmals bekräftigt werden, wie Steger gemäß Ansage laufend » längst vergessene Werke wiederentdeckt« ...
WvH: Wer hat das nicht …
NT: » ... und so das Repertoire maßgeblich erweitert«.
WvH: Aber er spielt fast ausschließlich spätbarocke Werke, die für die Blockflöte meistens nicht original sind, und fast alle innerhalb eines Zeitrahmens von etwa 40 Jahren?!? Inzwischen konnten seine KollegInnen die Blockflötenliteratur in den letzten 50 Jahren erweitern: von etwa 40 Jahren historischer und 6 Jahren zeitgenössischer Musik auf insgesamt sechs Jahrhunderte bis heute.
NT: Heißt es nicht, das CD-Projekt kümmere sich um »Alte Musik, die nach hunderten von Jahren erstmals aufgeführt wird«?
ISt: Für die Wiederentdeckung und Erstaufführung der Preziose »Caro augelletto«* in neuer Zeit soll Steger stellvertretend für weitere sensationellste Entdeckungen und Forschungsergebnisse höchstes Lob und Anerkennung gezollt werden.
Wohl wissend, diesen einfühlsamen, bescheidenen und demütigen, stets im Dienste der Musik stehenden Ton niemals treffen zu können, verbleibe ich mit den ergebensten Grüßen ...
* Hier sei die Ausgabe des Stückes »Caro augelletto« von Francesco Gasparini, erschienen im Carus Verlag in der Reihe Flauto e voce X, Nr 11.243, herausgegeben von Peter Thalheimer (sic!) erwähnt.
AW: Auch das sehr eingeschränkte Spektrum des Repertoires, das, nicht nur hier, sondern während des ganzen Films dargestellt wurde, ist ausgesprochen traurig.
NT: Immerhin wird für dieses Album aufnahmetechnisch auf ebenso hohem Niveau gearbeitet, wie man das von den vorangegangenen Produktionen kennt. Der Tonmeister »hat sehr genaue Vorstellungen vom originalen Klang«. Daher gibt es – und das ist jetzt kein Witz – laut Ansage »Michael-Jackson-Sound für Maurice Steger«! Mehr als seltsam mutet eine Filmsequenz an, wo es um die Vorzüge eines alten Röhrenmikrofons geht, welches bereits für amerikanische Produktionen wie die eines Frank Sinatra und Michael Jackson verwendet worden sei und nun auch seinen Dienst tun soll, um Stegers aktuelle CD-Produktion aufzuwerten.
Die Filmszene zeigt Steger im Gespräch um die verwendete Tontechnik fast ein wenig enttäuscht, dann jedoch nicht Michael Jacksons Mikrofon vom Typ Neumann U47, sondern das Großmembran-Röhrenmikrofon Neumann M249 vor die Nase gestellt zu bekommen. Bezeichnend dabei ist die Begründung des Tonmeisters Joël Cormier: »Das ist eher ein dumpfes, aber auch großes Mikrofon. Ich dachte, so für die dünnen Flöten passt das ganz gut!« Hier wird vom Fachmann unbefangen zum Ausdruck gebracht, wie es ist: Blockflöten sind und bleiben dünn im Klang – auch die fortwährend über den Klee gelobten Meyer-Instrumente – und werden erst durch technische Hilfsmittel klanglich aufgemotzt. Müssen aus Zwergen unbedingt Riesen werden?
Dies passt zum Tenor des Films, wie bei Minute 23:50 zu hören: »Das Comeback der Blockflöte – endlich ist sie salonfähig und konzertsaalfähig. Maurice Steger, die Meyers, sie tragen maßgeblich dazu bei.«
Man sollte besser aufhören, die Instrumente eines Herstellers grandioser darzustellen als die der Kollegen, schon aus reiner Fairness. Egal wie sie auch gemacht sind – um stilistisch nicht aus dem Rahmen zu fallen, bleiben sie dem begrenzten Spielraum ihrer speziellen baulichen Parameter verhaftet. Das gilt auch für die Instrumente nach dem Muster von Meyer, wenn sie nicht zu viele Kompromisse in Kauf nehmen sowie derart geöffnet und damit ähnlich unempfindlich klingen wollen wie deutsche Schulblockflöten.
Das Intonieren von Blockflöten bewegt sich stets zwischen zwei Polen: Entweder man baut elegant, eng, brillant, hell, mit dem Ziel von Klarheit und nuancierter Ansprache – was eine entsprechend differenzierte und etwas vorsichtigere Spielweise erfordert und nicht alle Spielarten erlaubt. Oder man gestaltet alles weit und groß mit der Konsequenz eine gewisse Stumpfheit und mehr Rauschen im Ton in Kauf zu nehmen sowie eine unpräzisere Ansprache vor allem der hohen Töne – der Spieler empfindet dann eine gewisse Unempfindlichkeit und größere Duldsamkeit des Instruments.
Traditionell bewegt man sich in Anlehnung an die Originale eher in der erstgenannten Ästhetik. Für übermäßiges Üben zu studentischen Zwecken kann schon einmal die weit intonierte Variante als Arbeitspferd nützlich sein. Die Abwägung beider Intonierarten bleibt eine Frage der Ästhetik.
WvH: Beides macht Sinn und weiteres ist ebenso denkbar. Selber habe ich etwa 120 gute Blockflöten, die insgesamt ziemlich gut unsere sechs Jahrhunderte Literatur bedienen können. Jede Flöte hat in der Basis ihre eigene Klang- und Artikulations-Charakteristik; den Rest sollte der Spieler erledigen. Das macht die Qualität von BlockflötenbaurInnen aus: Er/sie wird die Handwerkskunst haben müssen, die es dem Spieler erlaubt, seinen/ihren Sound auf das zu fokussieren, was gespielt wird.
Resümee zu guter Letzt?
WvH: Einen »Kultstatus«, den der Film möchte, ist doch wirklich das allerletzte, was die Blockflöte braucht.
BaHk: Der Klang der Blockflöte ist einzigartig. Im Blockflötenorchester mit Lernenden und im gemeinsamen Spiel im Gruppenunterricht ist es erforderlich, dass die Spielenden in der Lage sind, sich klanglich mit dem Nachbarn zu vermischen. Das bedeutet eine Erziehung hin zu klanglicher Vielfalt und Differenzierung von Anfang an, zu einem höchsten Anspruch an Intonationsfähigkeit und Gehörbildung. Hilfreich hier sind Instrumente, die sowohl belastbar sind als auch warm im Klang und in derselben Art und Weise intoniert sind. Hier entwickelten die bekannten Firmen wunderbares! Laute, sehr solistische Instrumente in den höheren Lagen (ab Alt aufwärts) sind hier völlig fehl am Platz. Warum ich das so ausführlich schreibe? Im Film fehlt mir die differenzierte Behandlung von Instrumenten z. B. fürs Lernen, das Zusammenspiel und als Soloinstrumente. Es erfordert enormes pädagogisches Geschick, Kinder, die z. B. gerade eine laute solistische Altflöte geschenkt bekommen haben, davon zu überzeugen, dass sie mit dieser u. U. im Orchester nicht spielen können. Das Besondere an der Blockflöte ist für mich, dass es so viele unterschiedliche Instrumente für unterschiedliche Klangwelten in den verschiedenen Epochen gibt!
MB: Was mich erstaunt, ist das doch recht große Echo, das der Film in meinem Bekanntenkreis hatte.
MZ: Vielleicht »bewerten« wir den Film von der falschen Warte aus. Wie Hans-Martin Linde richtig anmerkte, geht es weniger um »hehre Kunst«, nicht um Ars musica, im Grunde gar nicht einmal so sehr um die Blockflöte – es geht um Unterhaltung. Offenbar kann diese Art der »Präsentation« eine große Anzahl von Menschen begeistern. Damit wären wir in etwa beim Vergleich der »Hitparade der Volksmusik« mit einem Sinfoniekonzert.
MB: Und dass man mit einem Instrument, das nicht im Mainstream des Klassikbetriebs zu Hause ist, auch mal mit dem Holzhammer PR machen muss, um sichtbar zu werden, ist vielleicht auch verständlich …
BB: Für mich stellt sich die Frage nach der Zielgruppe des Films. Offenbar sollen Leute angesprochen werden, die von der Blockflöte fast gar nichts wissen. Andernfalls ist die darin enthaltene mangelhafte Information nicht erklärbar.
Zwar verspricht der Beitrag im Titel einen Überblick über die Blockflötenszene. Es ist aber praktisch fast nur von Maurice Steger die Rede. Bei Sousaphonsolisten könnte ich mir eher vorstellen, dass es vielleicht nur einen einzigen gibt. Die Blockflöte hat deutlich mehr gute Leute zu bieten – in Vergangenheit und Gegenwart.
Somit scheint mir der Titel des Films falsch gewählt – »Porträt des Blockflötisten Maurice Steger« wäre richtiger gewesen. Er ist jedenfalls ein grandioser Selbstdarsteller!
HDM: Keine Frage – heutzutage muss man sich vermarkten (schade aber wahr). Allerdings steht jeder in einer gesamt-kulturellen und gesellschaftlichen Verantwortung. Keiner spricht Maurice seine Verdienste ab, aber was überwiegt ist der »Hype«, und viele Zuhörer werden einseitig beeinflusst. Insofern finde ich, dass die Sendung als Musiker-Porträt besser aufgestellt gewesen wäre.
HB: Ich schließe mich dem Kommentar an, dass der Titel falsch ist, »Maurice Steger« wäre ausreichend. Jeder kann sich selbst darstellen, solange er mag. Was aber soll der Film bezwecken? So motiviert man doch nicht SpielerInnen/SchülerInnen!
MB: Scheinbar kann diese Art des Musizierens eine große Menge von Leuten faszinieren und lässt sie die Blockflöte interessant erscheinen. Ein Sohn einer Bekannten wollte eigentlich aufhören mit dem Blockflötespielen. Nachdem er Videos von Maurice Steger und Stefan Temmingh gesehen hat, ist er jetzt wieder begeistert dabei …
HMK: Es gibt Kinder, die wollen Geige lernen, weil sie wie Vanessa Mae sein wollen. Es gibt Kinder (und Jugendliche, sogar an Musikhochschulen), die wollen Blockflöte spielen wie Maurice Steger. Na und?
Im einen wie im anderen Fall ist es Aufgabe der Lehrenden, den Lernenden andere Wege zur Musik aufzutun: Interesse für das, was sich in der Musik abspielt; Neugier für die Struktur; Ehrfurcht vor dem Text; Feinfühligkeit für den Klang und und und ...
Bei mir hat dieser Film nicht Empörung, sondern Amüsement und herzliches Lachen hervorgerufen. Die Szenen in Taiwan und in London sind in ihrer Peinlichkeit auch zu köstlich. Das Paradoxe an dem Produkt ist, dass die offensichtlich beabsichtigte Verklärung ihres Idols ins Gegenteil umschlägt. Wer sich nur ein bisschen auskennt, wird über diesen Film lachen, und wer keine Ahnung hat, wird durch eine sachliche Diskussion nicht erreichbar sein.
DL: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bewundere Eure fundierten Kenntnisse, die auf einer lebenslangen professionellen Beschäftigung mit der Blockflöte gründen. Ich habe dieser Diskussion nur wenig hinzuzufügen, außer vielleicht tiefe Trauer und Wut über die Respektlosigkeit und unendliche Dummheit, die – wie es scheint – auf ewig mit unserem Instrument verknüpft ist.
Im vorliegenden Falle hat die Journalistin einfach nicht recherchiert; vielmehr hat sie sich als Sprachrohr für jemanden einspannen lassen, der andere Ziele als sie selbst verfolgte (welche auch immer das waren). Ihre fundamentale Unkenntnis und die fehlende Gegenprüfung von Fakten haben einem völlig verzerrten Bild der Blockflötengeschichte Tür und Tor geöffnet. Summa summarum beinhaltet diese Fernsehproduktion wirklich Falschmeldungen.
Wir alle sind jenen verpflichtet, die uns begeistert, uns unterrichtet und uns den Weg geebnet haben. Dies nicht anzuerkennen, wäre eine Lüge sich selbst gegenüber. Auch unter euch, meine liebe Kolleginnen und Kollegen, sind etliche, die mich inspiriert und unterrichtet, ja sogar für mich komponiert haben, und ich bin nicht sicher, ob ich ohne euch einen Lebensweg als Blockflötist beschritten hätte. Weshalb sollte ich euch meinen Dank vorenthalten? Wenn jemand sich durch das Wissen anderer gedemütigt fühlt, sollte er tunlichst einen anderen Beruf als den des Künstlers einschlagen. Die Gier des Publikums nach Sensationellem – sei es wahr oder nicht – wird unsere Argumente und Kommentare zunichtemachen zugunsten einer simplifizierenden, infantilen Sicht auf die Künste und auf das Blockflötenspiel als eine Art Sport. In unserem Fall allerdings darf der Blockflötenathlet immer wieder versagen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Wer ist daran schuld? Und warum kommt mir ausgerechnet jetzt Hans Christian Andersens Märchen »Des Kaisers neue Kleider« in den Sinn? »Schaut doch mal, der Kaiser ist ja nackt!« Willkommen im »Blockflötenuniversum«.
Was erwarten wir uns von unseren Kommentaren? Eine Entschuldigung von ARTE etwa? Das wird NICHT passieren. Womöglich beginnt das Publikum nachzudenken und sagt »Hm, … vielleicht haben diese Nörgler ja doch recht?« Ich glaube nicht. Woran ich aber glaube, ist, dass die gegenwärtig so leblose Debatte über Blockflötenästhetik und Ethik in der Kunst von unseren Kommentaren nur profitieren kann. Schließlich passiert im Blockflötenland gerade so unheimlich viel Bockmist …
Eine Schlussbemerkung: Fehlende Selbstkritik ist der Untergang eines jeden Künstlers.