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Eine neue kompakte Anleitung zum Verzieren

Über die Verzierung barocker Musik gibt es bereits einige meist umfangreiche Anleitungen. Manfredo Zimmermanns Beitrag dazu bietet ein übersichtlich gestaltetes Handbuch über die Thematik und bezieht die moderne Medientechnik gleich mit ein. Der Autor selbst schildert uns seine Motivation und Konzeption in Form eines persönlichen »Rückblicks in die Zukunft«.

»Es hat wohl niemand an der Nothwendigkeit der Manieren gezweifelt. Man kann es daher mercken, weil man sie überall in reichlicher Menge antrifft. Indessen sind sie allerdings unentbehrlich, wenn man ihren Nutzen betrachtet. Sie hängen die Noten zusammen; sie beleben sie; sie geben ihnen, wenn es nöthig ist, einen besondern Nachdruck und Gewicht; sie machen sie gefällig und erwecken folglich eine besondere Aufmercksamkeit; sie helffen ihren Inhalt erklären; es mag dieser traurig oder frölich oder sonst beschaffen seyn wie er will, so tragen sie allezeit das ihrige darzu bey; sie geben einen ansehnlichen Theil der Gelegenheit und Materie zum wahren Vortrage; einer mäßigen Composition kann durch sie aufgeholfen werden, da hingegen der beste Gesang ohne sie leer und einfältig, und der kläreste Inhalt davon allezeit undeutlich erscheinen muß.«
Solch weise Worte sind nachzulesen in Carl Philipp Emanuel Bachs »Versuch« (1753), 1. Teil, Kapitel 2, §1.
Es geschah vor genau 50 Jahren: Ich war 16 Jahre alt und hatte für mich die Blockflöte entdeckt. Als pubertierender Junge in diesem Alter, und dazu noch in einem südamerikanischen Land (ich bin in Argentinien aufgewachsen), war das eine echte Herausforderung. Man spielte als männlicher Jugendlicher selbstverständlich Fußball, Schlagzeug oder E-Gitarre, aber nicht Blockflöte! Kein Wunder, dass ich bei den Mädchen damals nicht punkten konnte … Aber ich hatte mich nach diversen negativen Erfahrungen mit Klavier und Trompete (man sieht wieder einmal, wie entscheidend die Pädagogen sind) in genau dieses Instrument verliebt. Ein motivierender Lehrer (er war von Haus aus Cembalist!) weckte in mir die verborgene Liebe zur Alten Musik. Eines Tages verkündigte er, dass ein berühmter Blockflötist aus Deutschland einen Kurs in Buenos Aires geben würde und ob ich nicht daran teilnehmen wollte. Es war Ferdinand Conrad, der anlässlich einer Konzerttournee einen Workshop am Collegium Musicum in Buenos Aires leiten würde. Ich meldete mich sofort an und bereitete dafür die bekannte Sonate in C-Dur von Francesco Barsanti vor. Den wunderbar verzierten ersten Satz durfte ich dann, unglaublich aufgeregt, vor den versammelten Kursteilnehmern vorspielen. Dann kam der entscheidende Moment: Ferdinand Conrad bat mich, diesen Satz für den kommenden Tag zu »entzieren«, d. h. ich sollte eine fiktive Urfassung erstellen, die quasi als Gerüst der vorliegenden Version zugrunde gelegen haben mag. Dies war zu tun, um die einzelnen Ornamente besser zu verstehen. Analysieren sollte ich außerdem folgende Aspekte:
Wie wurden einzelne Töne und Intervalle verziert?
Welche Figuren wurden dabei eingesetzt?
Welche rhythmischen Varianten hatte Barsanti verwendet? (siehe Notenbeispiel)
Rückblickend kann ich feststellen, dass ich damals mit dieser Aufgabe heillos überfordert war. Doch genau diese Fragen sollten mich im Lauf der Zeit immer wieder einholen. Schon während meines späteren Musikstudiums faszinierte mich all das, was nicht im Notentext stand: Eine Welt an Tönen, Melodien, Rhythmen, die mir als Musiker auf den ersten Blick unsichtbar war, sich aber mit Fantasie und Erfindungswillen als ein ganz persönliches und individuelles Universum offenbarte. Vielleicht war genau dieses Spielfeld, das mir als Musiker gestalterischen und kreativen Freiraum bot, der entscheidende Faktor, der mich irgendwann bewog, mich schwerpunktmäßig der Alten Musik zuzuwenden. Blockflöte und Traversflöte waren dabei die »Werkzeuge«, mit denen ich mich bestmöglich ausdrücken konnte. Besonders die Ornamentik, d. h. das Ausschmücken oder Verzieren einer Melodiestimme, das fantasievolle Ausgestalten eines »platten Gesangs« bereitete dem homo ludens in mir immer wieder großes Vergnügen.

Barsanti S 3 5 1

In den folgenden Jahrzehnten – ich hatte das Privileg, eine große Anzahl Studierender an verschiedenen Hochschulen und Konservatorien auszubilden – stellte ich mir immer wieder die Frage, wie man diesen besonderen Aspekt der Aufführungspraxis vermitteln kann. Zunächst musste der Schüler für sich erkennen, dass melodische Einfachheit nicht im Sinne der barocken Ästhetik ist. Man wird in keiner Kirche, in keinem Schloss, ja in keinem Haus des gehobenen Bürgertums aus dem 18. Jahrhundert »nackte« Wände oder Decken finden. Ungestaltete Wohnräume und eine lediglich zweckmäßige Ausstattung waren ein Zeichen von Armut und Fantasielosigkeit. Selbst die Kleidung wies unzählige Ornamente und verspielte Details auf. Dies galt natürlich nur für die gehobenen sozialen Schichten der Bevölkerung! Was für ein Unterschied zur heutigen Zeit! Wir erfreuen uns an einer kargen und lediglich zweckmäßigen Ausstattung und zahlen auf der anderen Seite viel Geld für kaputte und eingerissene Jeans. Nicht zuletzt auf Grund dieser »Sozialisierung« fällt es vielen Musikern schwer, sich in diese extravagante Üppigkeit hineinzuversetzen. »Diese einfache Melodie ist ja so schön, da muss man nicht extra verzieren!« Ein häufig anzutreffender Kommentar. Darum ging es damals jedoch nicht.
Wenn wir Georg Philipp Telemanns »Methodische Sonaten« betrachten, werden wir feststellen, dass die ursprünglich unverzierte Melodie für sich genommen schon sehr schön ist. Eigentlich bestünde kein Grund zur weiteren Ausschmückung. Trotzdem schlägt Telemann eine eigene verzierte Fassung vor. Eine Version, die – als eine von unendlichen Möglichkeiten – dem Satz einen ganz eigenen Stempel aufdrückt.
Ein weiteres Beispiel: Wenn man die unterschiedlichen englischen »Tutors« für Blockflöte um 1700 (u. a. von Humphrey Salter, John Hudgebut, Robert Carr) betrachtet, sieht man, dass jedes noch so einfache Musikbeispiel üppigst verziert ist. Auf fast jedem längeren Ton findet man ein »embellishment«. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Ornamente oft in Tabulaturen (!) integriert sind.

Beispiel Salter
Doch zurück zum roten Faden. Als ich 1987 an die Kölner/Wuppertaler Musikhochschule berufen wurde, war ein Teil meiner Aufgaben das Seminar für Aufführungspraxis zu gestalten. Dieses Seminar wurde von Studierenden aller Instrumentalklassen besucht. Ein besonderer Aspekt dieser Veranstaltung war natürlich die Ornamentik der Musik. Eine erste Erkenntnis bei der Vermittlung der Verzierungslehre war, dass bei den Studierenden generell eine große Schwierigkeit bestand, etwas zu spielen, das nicht notiert war; das bedeutet, eine Melodie dergestalt abzuwandeln, dass das Klangergebnis nicht mit den vorliegenden Noten übereinstimmt. Diese Fähigkeit, eine Melodie, die sich gewissermaßen hinter dem Gedruckten befindet, zu »sehen«, hatten die meisten (noch) nicht entwickelt. Durch aufbauende Übungen, Studium historischer Quellen und lebhaften Austausch setzte sich dann bei den meisten (für einige blieb dieser Aspekt der Aufführungspraxis weitgehend ein zu umgehendes Minenfeld) die Erkenntnis durch, dass sie so in der Lage waren, wirklich persönliche Interpretationen zu generieren.
Nach Beendigung meiner pädagogischen Aufgaben an der Hochschule kam mir der Gedanke, ein Handbuch der Ornamentik zu schreiben. Natürlich strebt man bei diesem Entschluss die Quadratur des Kreises oder salopp gesagt die eierlegende Wollmilchsau an. Da das bekanntlich ja nicht möglich ist, beschloss ich folgenden Maßgaben zu folgen:
Form: ein für den praktischen Gebrauch angelegtes Kompendium und keine musikwissenschaftliche Abhandlung
Zielgruppe: engagierte Instrumentalisten/Sänger (Amateure, Studierende, Profis), die beim Einstieg in die Kunst des Verzierens unterstützt werden möchten
Inhalte: historische Beispiele, Übungen, Tipps, »Regeln« und persönliche Exkurse
Begleitung: harmonisch-rhythmische
Unterstützung bei den Übungen durch mit einem Cembalo live eingespielte Sound-files
Nun ist nach 50 Jahren der Kreis geschlossen und was im fernen Buenos Aires mit Ferdinand Conrad seinen Anfang genommen hat, findet in Ettlingen mit einem »Handbuch für das eigenständige Verzieren« seinen Abschluss.

 

Aufbauübungen

Wir beginnen mit einfachen Intervallen, die auf vielerlei Arten abwechslungsreich verziert sind. Diese vorerst kleinen Lernschritte ermöglichen aber, dir ein umfangreiches Repertoire an Figuren und Patterns für den »großen Wurf« anzueignen.
Dafür ist es notwendig, diese kleinen Modelle systematisch zu üben, um somit die Bausteine zu erhalten, mit denen du dann später die komplizierteren und ausufernden Figurationen komponieren wirst.
Aber keine Bange, bevor du deine eigenen Verzierungen schreibst, wirst du die vorgegebenen Musterbeispiele mehrmals spielen und somit dein Gedächtnis füttern.
Das Ganze kannst du klanglich »anreichern«, indem du die entsprechenden Sound-
files anklickst und so von einem realen Basso Continuo begleitet und unterstützt wirst. Diese Soundfiles sind sogenannte Loops, die es dir ermöglichen, eine Verzierung nach der anderen zu spielen, ohne dazwischen absetzen zu müssen.

Notenbeispiel Scan01

Hier zeigen uns Turini im oberen und Quantz im unteren Beispiel, wie sie sich Verzierungen im C-Dur-Raum vorstellen.

Notenbeispiel Scan02

Die jetzige Zeit ohne Hochschulverpflichtungen bietet mir auch Möglichkeiten neue und zum Teil von mir unbegangene Wege einzuschlagen. So habe ich es beispielsweise gewagt, der bekannten Partita BWV 1013 in a-Moll (c-Moll in der transponierten Fassung für Blockflöte) von Johann Sebastian Bach nicht nur einen harmonisierten Bass hinzuzufügen, sondern auch einige »Eingriffe« satztechnischer Art vorzunehmen und somit dem »das wurde immer schon so gespielt« entgegenzutreten. In der jahrzehntelangen Beschäftigung mit diesem wunderbaren Werk sind immer wieder Fragen zur Phrasierung, aber auch zu »unlogischer« Notation aufgetaucht, die ich versuche, mit dieser Neuausgabe zu beantworten.

Partita BlFl mit BC ausgesetzt 2


Mein nächstes Projekt ist eine Reihe von Lernvideos (Tutorials), die sich bestimmten Themen des (Block-)Flötenspiels widmen. Das erste wird sich mi dem »Flattement« beschäftigen. Wie wird das Fingervibrato technisch ausgeführt? Wie soll/kann das Klangergebnis sein? Was soll es ausdrücken? Diesen Fragen kann man wunderbar in einem Video nachgehen und akustisch und optisch erläutern. Ich bin sehr gespannt!
Und abschließend etwas ganz Besonderes: Ich biete in Zukunft ein persönliches 1:1 Video-Coaching an. Das ist wie Privatunterricht, aber nicht im gleichen Raum, sondern Online. Das bedeutet: Der Schüler/die Schülerin ist bei sich zu Hause und ich ebenfalls, aber bei mir! Verbunden sind wir über eine WebCam, die heutzutage zur Ausstattung eines jeden Laptops gehört. Der große Vorteil dieser Kommunikationsform ist, dass man unabhängig von Entfernungen und ohne weitere Mühen Unterricht, ein spezielles Coaching oder einfach Antworten zu anstehenden Fragen bekommen kann.
Tja, ich stelle fest, Alter schützt vor Fantasie nicht … Es ist wunderbar, mit musikalischer Erfahrung, mit nach wie vor geliebten Instrumenten und mit immer wieder herausfordernder Pädagogik den Menschen auf die eine oder andere Weise das sinnliche und aktive Erleben an der Musik näherzubringen.
PS: Da in der Kunst der (persönliche) Geschmack immer eine entscheidende Rolle spielt, ist mir bewusst, dass in dem Moment, in dem man schriftlich an die Öffentlichkeit tritt, sofort die Stimmen der Kritiker laut werden. Wenn diese Kritik konstruktiv ist und über der Gürtellinie bleibt, sei sie mir willkommen.

 

B048

Manfredo Zimmermann: Die Ornamentik in der Musik des Barock. Handbuch für das eigenständige Verzieren (Manfredo Zimmermann: Ettlingen, 2019).

Info: www.music-ornaments.com
Noten und E-Books: https://elopage.com/s/music-ornaments/

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